Die Herzen aller Mädchen
Vorwand hergelockt hatte.
Als der Bote mit der Pizza endgültig überfällig war, überlegte Bettina, den Fernseher auszumachen oder zumindest umzuschalten, denn der Sternekoch, der jetzt das Wort hatte, vergrößerte erstens allein durch seine Profession ihren wütenden Hunger und kapierte zweitens das Prinzip der Sendung nicht. Mehrfach war er aufgefordert worden, seine Lehrzeit beim großen Witzigmann zu schildern, stattdessen sprach er lieber über sich selbst. Was Bettina sogar sympathisch gefunden hätte, wäre sein Thema nicht die Menschenführung. Die hatte er noch vorm Mauerfall im Osten gelernt, war eben doch nicht alles schlecht gewesen, Kochen war sowieso Diktatur, die Küche ein Bild der Welt und strenge Hierarchie allgemein vonnöten. Bettina hatte den Finger schon am »Aus«-Knopf, da schwenkte die Kamera auf einen Gast, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, wieso, war ihr nicht genau klar. Weil er so eine eigenartige Spannung ausstrahlte? Der Mann war schmal, aschblond und gepflegt, fast zu sehr, er lehnte gelöst in seinem Sessel, rauchte aber unablässig. Er mochte um die vierzig sein, oder aber, dachte Bettina, er war viel jünger und spielte das mittlere Alter nur. Irgendetwas störte an seiner Erscheinung. Da war so ein hintergründiger Ernst in seinem Gesicht, als wüsste er als Einziger, dass unter dem Sessel des Moderators eine Bombe lag.
Jetzt klingelte es an der Tür und Bettina erhob sich, um ihr Essen in Empfang zu nehmen, und als sie schließlich alles bezahlt und ausgepackt und vor sich auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut hatte, da war über den Koch alles gesagt und der ernste Mann saß voll im Bild, jetzt rauchte er nicht mehr, sondern hörte stirnrunzelnd einer blonden Dame zu, die mit großem Körpereinsatz redete und ihre Hände ab und zu auf die ihrer Nachbarn legte. »Er war ein wunderbarrer Mann«, sagte sie nachdrücklich. »Ich hab ihm alles zu verdanken.«
Bettina biss in ein Stück ihrer Pizza Mare Nordico, eine große rosa Krabbe kullerte hinab, es tropfte an allen Seiten, Fett, viel geiles Fett, sie hatte immer noch einen Kloß im Hals, doch das Fett half. Geschmolzener Käse und Remoulade und lauwarmer Lachs waren gut für die Verfassung, wieso hatte sie das früher nicht bemerkt? Statt Tränen ließ sie sich nun den tröstlichen Saft über die Finger laufen und kaute kräftig und spülte mit viel Wein nach und hörte die unglaubliche Geschichte des mutigen Georg Krampe, Autor von schlechthin allen verfilmten deutschsprachigen Spionageromanen der Nachkriegszeit, hatte sie von dem nicht sogar irgendwo ein Werk im Regal stehen? (»Jeder hat des.«) Von der schwärmerischen bayerischen Dame auf der Mattscheibe erfuhr sie nun, dass die Bücher nicht nur erfolgreich, sondern in gewissem Sinne auch alle, alle wahr! waren, das war weniger bekannt, aber Georg war ein wirklicher und sehr bescheidener Held, der sich nur zuweilen hatte hinsetzen und seine eigene spannende Jugend aufschreiben müssen und der seinerzeit ein deutsches Kind vor einem entsetzlichen Tod in einem italienischen Gewässer und Schlimmerrem! bewahrt hatte, indem er es kurz darauf noch aus einer hochbrisanten geheimdienstlichen Verwicklung rettete, die den mutigen Autor über mehrere grundsätzlich unpassierbare Grenzen in den Osten und wieder zurückbrachte. »Und wenn er des net getan hätte«, schloss die Dame strahlend, »wärren all seine wunderbarren Bücher nie geschrrieben worrden.«
Worauf sich in der Runde Misstrauen breitmachte. Große Begeisterung erntete die Blonde nicht, auch wenn sie so volkstümlich hübsch und von gesunder Hautfarbe war. Bettina goss sich Wein nach und betrachtete den wesentlich blasseren Raucher, der immer noch zurückgelehnt saß. »Mein Vater«, antwortete er kühl, »war nie hinter dem Eisernen Vorhang.«
Aha, dachte Bettina und erwischte mit dem nächsten Bissen zwei Krabben auf einmal. Showtime.
»Sie sprechen jetzt natürlich mit dem Spezialisten, gnädige Frau«, erklärte Moderator Kachelmacher der Dame schadenfroh, Anna Oberhuber hieß sie, eben wurde ihr Name eingeblendet. »Gregor Krampe ist der Sohn des Autors und, nebenbei bemerkt, promovierter Germanist und Wissenschaftler. Er arbeitet als Sprecher der Medea-Gruppe, eines literaturwissenschaftlichen Forschungsprojekts, das sich mit einem sensationellen Fund aus dem Mittelalter beschäftigt. Darüber hinaus ist er aber auch für die sogenannte schöne Literatur tätig, denn als Nachlassverwalter Georg
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