Die Herzen aller Mädchen
leidtun«, sagte Bettina.
»Nein«, sagte er. »Dann hättest du nie von ihr gehört. Sie wäre verachtet, finanziell unterversorgt, getrennt von ihrer Familie, eine gebrochene Randgestalt. Nichts Besonderes. Nur eine von vielen verstoßenen Frauen. Etwas, das alle Tage vorkommt. Heute wie damals. Überall. Sogar unter Augustus im römischen Kaiserhaus.«
»Was ist passiert?«, fragte Bettina ahnungsvoll.
»Tiberius.«
»Wer war das?«
»Augustus’ Nachfolger. Er war ein erfolgreicher Feldherr und der Sohn von Livia, der Kaiserin, doch kein Nachkomme des Augustus. Eine Chance auf den Thron hatte er nur dann, wenn er sich bereit zeigte, die Blutlinie fortzuführen. Also trennte er sich auf Weisung des Augustus von Vipsania Agrippina, seiner Ehefrau, mit der er einen dreijährigen Sohn hatte und die ihn bekanntermaßen liebte. Und heiratete Julia, die kaiserliche Tochter.«
»Nein.«
»Ja. Für Julia war es übrigens schon die dritte solche Zwangsehe, und sie wurde denkbar schlecht. Medea war zu dieser Zeit längst veröffentlicht. Aber Kunst braucht eben ein Echo im Leben, um zu wirken. Ich stelle mir Ovids Untergang so vor: Irgendwann sah die kaiserliche Familie eine Aufführung seines Dramas. Ganz unvoreingenommen. Eigentlich wollten die Caesares nur ein Schauspiel genießen und sich am verdienten Sturz der Medea moralisch aufrichten. Stattdessen mussten sie sich selbst erkennen. Leider fanden sie sich aber in den Figuren, von denen jedermann sagte: Wieso stirbt eigentlich nicht der? Nimm Augustus. Er war die Paradebesetzung für den hinterhältigen Schwiegervater, denn er hatte praktisch seine gesamte Familie zusammengeklaut und verschob sogar nahe Angehörige nach Gutdünken in neue Ehen. Tiberius machte als feiger und ferner Kriegsheld Jason auch keine gute Figur, und der Rest der Familie fühlte sich vermutlich ebenfalls getroffen. Und so …« Gregor hob die Hände und streifte dabei Bettinas Ärmel. »Allein der Verbannungsort Ovids ist bezeichnend.« Der Ärmel fühlte sich tröstlich an, wenn er auch kratzig und grün war. Sehr tröstlich. Der Ärmel einer Frau, die er nicht erklären musste. Die weder in Geldgier noch in Schuld erstarrt war. Eine lebendige Frau.
»Wieso?«, fragte sie.
»Wieso was?«, fragte Gregor verwirrt.
»War dieser Verbannungsort bezeichnend?«
»Oh. Ach so. Die Schwarzmeerküste war die ursprüngliche Heimat der Medea.« Er lächelte.
Bettina nicht.
»Und vermutlich«, fügte er an, »hatten Augustus oder sein Nachfolger Mittel, ein Buch wirklich zu verbieten. Sie haben den Spiegel zerbrochen. Medea ist das einzige Werk von Ovid, das tatsächlich verschollen ist. Die Zensur der Liebeskunst dagegen war nicht ernst gemeint.« Er blickte ihr in die golden gesprenkelten Augen. »Gar nicht ernst.«
Sie küsste ihn plötzlich. Sie konnte nicht anders: Sie stand in die Ecke gedrängt in einem Glaswinkel, zwischen zwei Myrtenbäumen.
Doch irgendwann machte sie sich wieder frei. »Hatte Ovid eine Frau?«, fragte sie rau.
»Drei Ehefrauen«, sagte Gregor, ohne viel denken zu können. »Oh.«
»Nacheinander.«
Sie blickte ironisch. »Ich meine: Hatte er eine Frau, die mit ihm gegangen ist? In die Verbannung?«
»Nein.« Gregor bereute diese Antwort sofort. Er sah das Urteil in Bettinas Gesicht.
»Er war kein Familienvater, nicht wahr?«, sagte sie.
»Doch«, erwiderte er alarmiert. »Er hatte eine Tochter.«
Sie dachte einen Moment nach. Dann schob sie sich an ihm vorbei. »Wohin fliegst du?«
»London.«
»Wenn ich dir folge, werde ich dann Frau Ballier finden?«
Er schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, war sie an der Tür. Sie drehte sich um und warf ihm durch den Rauch eine Kusshand zu. Dann schritt sie hinaus. Die Tür schloss sich automatisch hinter ihr. Da, wo sie gestanden hatte, erschien auf dem Glas ein kaum kenntlicher, kaffeefarbener Myrtenbaum.
Monika et Ulrike quamvis indignae laicae gravidae hunc codicem scripserunt
Danke
an alle lieben Babysitter
an Volker Jaecklein
und Agazio Ritrovato
für die freundliche Leihgabe ihrer guten Namen
an meinen Informanten
Kriminalhauptkommissar Herbert (Schnully) Walter
an meine Agentin
Petra Herrmanns
an Ariadne,
die sicher irgendwann
am Himmel als Sternbild zu sehen sein werden
an Peter,
der mit mir nach Pisa geflogen ist
an Karl und Paul,
die an diesem Buch auch mitgemacht haben
und an meine Freundin und Lektorin
Ulrike Wand
Ulrikes Best
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