Die Herzogin, ihre Zofe, der Stallbursche und ihr Liebhaber
uns weiter reiten”, sagte die Herzogin schließlich. “Kaspar und Arno werden uns in einem von zwei möglichen Gasthäusern treffen. Eins davon ist nicht weit von hier, nicht wahr, Sylvie?”
Nie zuvor hatte Henri ein Gasthaus mit einem so großen Schild gesehen, wie es draußen am
La sirène fuyant
befestigt war. Anstatt an einem Metallstab über dem Straßenrand zu hängen, erstreckte es sich über die ganze Länge des Gebäudes, vom unteren Rand des Daches bis zur Oberkante der Fenster. Das Schild, stellte er fest, erzählte eine ganze Geschichte.
Eine Meerjungfrau schwamm in einem Schwarm leuchtend bunter Fische. Ihr langes Haar wirbelte um ihre Brüste, die von kunstvoll auf dem Schild angebrachten, echten rosafarbenen Muscheln bedeckt waren. Auf dem nächsten Bild sah man dieselbe Meerjungfrau, die sich mit ihrem Haar in einem Fischernetz verfangen hatte. Schließlich war die Nixe wieder frei und schwamm von dem zerrissenen Netz fort. In einer Hand hielt sie die rosafarbene Muschel, mit der sie das Fischernetz zerschnitten hatte. Dort endete die Geschichte, die auf dem Schild erzählt wurde. Würde die Meerjungfrau jemals wieder zu ihrem Zuhause und ihrem wahren Selbst zurückfinden?
Henri fragte sich außerdem, ob ihre nackten Brüste beim Schwimmen wirklich so aufrecht stehen würden, ganz besonders angesichts ihrer beeindruckenden Größe. Doch er beschloss, dass es ihm egal war, das Bild jedenfalls war wunderschön. Und das Wasser des Ozeans, der dort dargestellt war, schien ziemlich kalt zu sein, wie Henri an den steifen Nippeln der Nixe zu erkennen glaubte.
“Aua!”, schrie er, und griff sich an den Hinterkopf.
Sylvie zog ihre Hand zurück. “Aufwachen! Kümmere dich um die Pferde!”
Henri nahm sich viel Zeit für die Pferde. Zuerst redete er sich ein, dass Tulipe und Guirlande nach dem schrecklichen Nachmittag besondere Aufmerksamkeit benötigten, aber schließlich gestand er sich ein, dass er derjenige war, der Trost benötigte. Noch lange, nachdem er mit dem Striegeln fertig war und Unmengen von Matsch von Lilas’ Fesseln abgewaschen hatte, stand er in Guirlandes Box, einen Arm über ihren Rist gelegt und die Nase an ihren Hals geschmiegt.
Schließlich wandte die Stute den Kopf und knabberte an seinem Haar und seiner Jacke. Er ging zum Eimer an der Stalltür, um jedem der Pferde eine Karotte zu geben. Nachdem er noch mehrmals die Runde gemacht hatte, war der Eimer leer. Er war immer noch nicht bereit, ins Haus zu gehen und von der Herzogin zurückgewiesen zu werden, wenn er ihr Trost anbot. Die Pferde begriffen wenigstens, dass er sie liebte und es gut mit ihnen meinte. Henri nahm den Eimer hoch, schwang ihn gedankenverloren eine Weile hin und her und ging endlich zum Hintereingang des Gasthauses, wo er die Küche vermutete.
Die Küche war in einem separaten Gebäude untergebracht, das durch einen überdachten Gang mit dem Haupthaus verbunden war. Als er näher kam, bemerkte er die geöffneten Holzläden an allen Fenstern, die wahrscheinlich als Schutz vor schlechtem Wetter gedacht waren. Henri duckte sich unter dem Dach durch und sah, dass die Hintertür offen stand und von einem Ziegelstein am Zuschlagen gehindert wurde. Nachdem er in den Gang getreten war, hörte er leise, gehetzte Stimmen, die nicht bis hinaus in den Hof gedrungen waren.
“Ich sage dir, sie ist es”, flüsterte eine Frauenstimme. “Ich habe sie auf den Münzen gesehen.”
“Erzähl keinen Unsinn, Blanche. Du bist eine Träumerin.”
“Und du bist ein Dummkopf, Charles. Es ist eine Belohnung ausgesetzt. Wir könnten reich werden!”
“Wir haben genug zum Leben. Warum bist du bloß nie zufrieden? Warum musst du … Ach, vergiss es! Wir reden später darüber. Mach das Essen fertig, wir haben Gäste.”
Ein stämmiger Mann mit grauer Mähne stapfte aus der Tür. Mit pochendem Herzen duckte sich Henri hinter einen der Fensterläden, bis der Wirt verschwunden war. Eigentlich mussten sie so rasch wie möglich fliehen, doch das würde die Frau nur in ihrer Überzeugung bestätigen, die Herzogin erkannt zu haben – und sie würde vielleicht dafür sorgen, dass sie verfolgt wurden. Außerdem mussten sie hierbleiben und auf Kaspar und Arno warten. Oder sie ritten zum zweiten der ausgemachten Treffpunkte, doch der war nicht weit entfernt, und sie konnten dort zu leicht entdeckt werden, wenn die Frau Alarm schlug. Sie musste überzeugt werden, dass sie sich täuschte, und Henri musste die Sache selbst in die Hand
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