Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
unterwegs. Wie mochte es inzwischen um Sophie stehen? Schließlich erhob er sich, trat zu einem hübschen Gemälde, auf dem ein Bauerntanz abgebildet war, nahm es von der Wand und öffnete ein Schränkchen, das dahinter in die Wand eingelassen war. Jacob Ynons hob eine Augenbraue, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, um einen weiteren Happen von dem Schmalzbrot zu nehmen. Er war ein kluger Mann, trotz seines unscheinbaren Äußeren und seiner Schweigsamkeit. »Ich bin sofort zurück«, erklärte Julius Elisabeth.
Reinhard hielt gerade sein Verdauungsschläfchen, als der Hauslehrer das Zimmer betrat. Licht fiel durch ein riesiges Fenster, das sich vom Erdgeschoss bis zur Decke zog. Einige Sekunden lang betrachtete Julius den Schlafenden. Dann rüttelte er ihn an der Schulter. Es dauerte ein Weilchen, bis Reinhard so weit wach war, dass er ihn erkannte.
»Edith?«, fragte er verblüfft, als Julius ihn auf die Wildenburger Hexe ansprach. »Ja, natürlich kannte ich das Weib. Wie könnte man so eine vergessen! Sie war als Magd hier, wurde aber ertappt, als sie Butter stahl, und davongejagt. Ich glaube, sie wurde in Sprockhövel als Hexe angeklagt. Aber warum …«
»Was ist danach aus ihr geworden?«
»Ich weiß es nicht. Wenn ich mich recht entsinne, ist sie aus dem Kerker geflohen. Hieß es nicht, ein Wärter habe ihr geholfen? Warum fragt Ihr nach ihr?«
»Und wo steckt sie jetzt?«
»Julius, mein Bester – ich habe keine Ahnung.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Julius mit einem Lächeln, das ihn Mühe kostete. Täuschte er sich, oder begann die gelassene, beiläufige Fassade seines Arbeitgebers zu bröckeln? Er setzte sich in den Sessel, der dem Kamin am nächsten stand, und schaute in das Feuer, dessen Funken in den Schlot stiegen. Wie oft hatte er hier gesessen, mit den Jungen, manchmal mit Elisabeth, fast täglich mit Reinhard. Dieses Haus, Herbede, war ihm vielleicht mehr Heim gewesen als jeder andere Ort, an dem er sich befunden hatte, ausgenommen vielleicht sein Elternhaus.
»Ich verstehe nicht. Was wollt Ihr, Julius? Wieso diese Fragen über alte Geschichten?«
Bedrückt faltete Julius die Hände auf dem Schoß. Ihm war bewusst, dass Ynons, aber auch Elisabeth, ihnen aufmerksam lauschten. »Man stelle sich vor«, begann er langsam zu sprechen, »eine Familie. Es geht ihr finanziell nicht allzu gut. Doch das Glück kommt zu Hilfe. Die Tochter des Hauses heiratet einen wohlhabenden Gutsherrn. Sie bekommt einen Sohn, und als ihr Mann stirbt, setzt sie im Bewusstsein, dass sie krank ist, einen Menschen als Verwalter des Erbes ein, dem sie vertraut. Ihren Bruder. Tatsächlich gelingt es ihm, das Gut, das trotz seiner Möglichkeiten verwahrlost ist, wieder in die Höhe zu bringen. Alles läuft bestens. Doch allmählich fühlt sich der Bruder …«
»Was soll das? Diese Anspielungen …«
»… wie der Herr des Gutes, das er bis in den letzten Winkel kennt«, fuhr Julius fort, ohne sich beirren zu lassen. »Ist nicht alles irgendwie die Frucht seiner Arbeit? Aber da ist auch noch sein Neffe, der eigentliche Besitzer des Gutes. Der Junge wächst heran. Und dem Bruder wird immer stärker bewusst, dass seine Stellung nur eine vorläufige ist. Er ist nichts als der Platzhalter für den Erben.«
»So sollte es doch auch sein. Das war von Anfang an klar.«
Durch das riesige Fenster zum Innenhof klang Gelächter. Auf Gut Herbede herrschte eine entspannte Stimmung. Reinhard war ein gutmütiger Herr, vor dem man sich nicht in Acht zu nehmen brauchte. »Selbstverständlich war es klar«, sagte Julius. »Aber plötzlich ist der Zeitpunkt, zu dem er zurücktreten müsste, so nah. Da fällt ihm ein, dass sein junger Neffe in den Krieg ziehen könnte. Fallen die Männer dort nicht zuhauf?«
»Aber … das war Marx’ Einfall!«
Julius nickte. »Doch er fand rasche Unterstützung, nicht wahr? Ihr wart so leicht umzustimmen, Reinhard. Mich hat das damals gewundert, aber nicht misstrauisch gemacht, Gott sei’s geklagt. Der Erbe geht also nach Magdeburg – und kommt erschüttert, aber unversehrt wieder heim. Was nun?«
»Hört auf, Julius! Das ist alles … Was wollt Ihr überhaupt? Was soll dieser Blödsinn?« Reinhard erhob sich. Er schritt durch das Zimmer, erregt und beunruhigt.
»Aber das Unglück wird noch größer. Der Erbe verliebt sich nämlich. Er will heiraten. Zum Glück ist das Mädchen eine Nonne, die zudem bereits ihr Gelübde abgelegt hat. Keine Gefahr also.«
»Eben«, entfuhr es
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