Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Toten ruhen lassen und sich stattdessen auf Heinrichs Vetter Conrad konzentrieren, der es auch nicht leicht hatte. Reinhard hatte seinen Sohn kurz nach Heinrichs Tod zum Theologiestudium auf die ehrwürdige Kölner Universität geschickt. Eigentlich keine schlechte Wahl, denn Conrad fühlte sich zur Kirche hingezogen. Aber er war so verstört gewesen, als Julius ihn das letzte Mal besucht hatte. Heinrichs Tod schien ihn bis ins Mark getroffen zu haben. Kaum dass er sich aufs Gespräch konzentrieren konnte. Der Junge ist zu empfindsam, dachte Julius. Viel weicher als Heinrich. Ja, es wäre gut, ihn wieder einmal aufzusuchen. Da Reinhard Julius gebeten hatte, nun, da die Jungen der Obhut des Hauslehrers nicht mehr bedurften, die juristischen Angelegenheiten des Hauses zu erledigen, war er immer noch ein Teil des Elverfeldt’schen Haushalts und konnte bei diesem Ausflug mit Unterstützung rechnen.
Julius umrandete den hinteren Teil des Gutes und erreichte die Mauern des Gesindetraktes, der dem eigentlichen Haus vorgelagert war. Doch plötzlich änderte er die Richtung. Warum nicht vor dem Abendbrot Heinrichs Grab noch einen Besuch abstatten? Als er das Tor in der Friedhofsmauer erreichte, entfuhr ihm ein Seufzer. Bei dem marmornen Engel, der die Familiengrabstätte überragte, kniete eine feingliedrige Gestalt in schwarzen Kleidern mit einem schwarzen Schleier. Elisabeth. Sie musste einen ihrer klareren Tage haben, wenn sie zum Grab ihres Sohnes gegangen war. Und das bedeutete: einen schlimmen Tag.
Langsamer als zuvor ging er weiter, bis er die Frau erreichte, die ohne Sorge um ihren Rock in der Erde kniete. Eine rührende, kindlich wirkende Person. Sie trug die Handschuhe, mit denen sie – immer noch ein wenig eitel – ihre alternden Hände bedeckte. Die Spitzen waren von Erdkrumen verklumpt. »Er ist tot, nicht wahr?«, fragte sie, ohne aufzusehen.
Julius half ihr auf die Füße. Elisabeths Gesicht war nass von Tränen und schmutzig, weil sie wieder und wieder mit den Fingern darübergefahren war. »Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben«, sagte sie, und er nickte. Was sollte er auch antworten. Er nahm ihren Arm, und sie gingen den Weg zurück, den er gerade erst gekommen war.
»Heinrich war ein so … fröhliches Kind«, murmelte Elisabeth.
»Da habt Ihr recht.«
»Wisst Ihr noch, wie er Anne die Eier ins Bett gelegt hatte?«
Die Episode hatte sich weit vor Julius’ Ankunft auf Herbede zugetragen, aber er hatte sie tausendmal aus Elisabeths Mund gehört. Heinrichs Kinderfrau und die Eier, die zwischen den Federn zerbrochen waren. Nun gut, wenn es ihr half, die alten Geschichten aufzuwärmen …
»Warum hat Marx ihn nicht beschützt?«
Marx – das war keine alte Geschichte. Wenn Elisabeth Marx von Mengersen erwähnte, bedeutete es, dass sie gerade im Kopf hatte, was ihre Gesellschafterin im Übermaß der Entrüstung ausplauderte und was Pfarrer Claßgen bei der Beerdigung unnötigerweise weiter breitgetreten hatte: dass Marx nämlich die Schuld an Heinrichs Tod trug. Dass er ihn ermordet hatte. Julius fiel keine Antwort ein. Sie gingen einige Schritte und verließen den Friedhof. Am Himmel flogen weiße Schleierwolken. Ein streunender Hund jagte ein paar Ziegen.
»Und der Brief?«, fragte Elisabeth.
»Pardon?«
»Wo steckt denn nun dieser Brief?«
War der Moment der Klarheit schon wieder vorüber? »Wir werden ihn finden«, meinte Julius.
Ungeduldig kniff Elisabeth ihn in den Arm. »Wir müssen ihn auch finden. Er war Heinrich so wichtig. Deshalb ist er schließlich losgeritten – um den Brief zu holen! Ich muss ihn weitersenden. Nach Jülich, an den Herzog. Das hatte ich ihm versprochen. Falls ihm etwas geschieht, soll ich den Brief weitersenden, hat er gesagt.«
Julius horchte auf.
»Aber was soll dir denn geschehen, mein dummer Junge?, habe ich gefragt. Du ziehst doch nicht in den Krieg.«
»Verzeihung, Elisabeth, wisst Ihr denn, was der Grund für Heinrichs Reise nach Speyer war?«
»Welche Reise?«
»Nun, sagtet Ihr nicht gerade …?« Julius verkniff sich den Rest der Frage. Elisabeth hatte den Faden schon wieder verloren. »Gehen wir zurück zum Haus«, schlug er vor. »Die Hitze bekommt Euch nicht.«
»Jeder weiß, was mir bekommt. Nur ich selbst wohl nicht. Kein Wunder – ich bin ja verrückt. Und eine Verrückte weiß nicht, was gut für sie ist«, meinte sie gekränkt.
»Aber nicht doch.«
Sie zog brüsk ihre Hand von seinem Arm, ging einige Schritte und blieb
Weitere Kostenlose Bücher