Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
bereits Nachmittag. Der Tag hatte sich aufgehellt. Die Sonne schien in den Wohnturm, und Sophie hörte von draußen das Lärmen des Gesindes, das Wasser aus dem Brunnen kurbelte oder auf andere Weise seinem Tagwerk nachging. Sie kroch aus den Federn und trat ans Fenster. Doch als sie sich hinausbeugte, merkte sie, dass das Licht im Zimmer trügerisch war. Am Horizont zogen schon die nächsten schwarzen Wolken auf. Es sah nach einem Unwetter aus. Seufzend legte sie die Hand auf den Magen. Ihr war übel. Das kannte sie ja aus den ersten Wochen der Schwangerschaft, aber sie hatte gehofft, dass diese Zeit vorüber wäre.
Marsilius schien immer noch nicht heimgekehrt zu sein, sonst hätte man sie sicher geweckt. Leider befanden sich weder Eva noch Gesche in der Schlafkammer, so dass sie sich nicht vergewissern konnte. Aber Eva hatte ihr die mit frischem Wasser gefüllte Porzellanschüssel auf das Tischchen neben dem Spiegel gestellt. Sophie wusch sich und schlüpfte in die Kleider, die das Mädchen bereitgelegt hatte. Ihr war immer noch schlecht.
Stirnrunzelnd drehte sie sich zum Spiegel um. War es möglich, dass sie langsam dicker wurde? Nein, sie sah aus wie immer. Nur ihr Gesicht schien schmaler geworden zu sein, fast rattenhaft. Sie schnitt sich eine Grimasse, fuhr mit einem Kamm durch die Haare und machte sich auf den Weg in die Küche.
Dort herrschte ein geschäftiges Treiben. Theiß hantierte an den Töpfen, die an den Kochketten baumelten, ein Junge schnitt Gemüse, zwei Frauen rupften Enten, denen man die Hälse abgeschnitten hatte. Offenbar baute das Gesinde darauf, dass die Jagd ihres Herrn von Erfolg gekrönt war, und plante ein aufwendiges Essen.
Mit schlechtem Gewissen, weil sie nicht selbst auf den Gedanken gekommen war, für Marsilius etwas vorzubereiten, beschloss Sophie, den Boden des großen Saals mit Blumen zu bestreuen. Sie setzte den Gedanken sofort in die Tat um, indem sie der alten Märthe befahl, auf der Koppelwiese einen Korb voller Blumen zu pflücken. Märthe legte das blutige Messer fort und wischte die Hände an der Schürze ab.
»Warte«, rief Sophie, die ihr aus der Küche folgte. Fragend wandte die Magd ihr das Gesicht zu. Sophie zögerte. Sie schloss die Tür, so dass sie sich allein in dem Zimmer mit den hohen Fenstern befanden. War Märthe vertrauenswürdig? Gehörte sie zu denen, die der Burgherrin gut gesinnt war? Ja, entschied sie und sagte leise: »Ich war auf dem Friedhof und habe mir die Gräber von Dirk Wolpmanns Kindern angeschaut.«
Es war, als fiele im Gesicht der alten Frau etwas zusammen. Ihre Finger fuhren zum Rock und befummelten den Stoff. Aha!, dachte Sophie. Fiebrige Erwartung packte sie. Sie war auf der richtigen Spur. Um Dirk Wolpmanns Familie gab es ein Geheimnis. Mit der Hand auf dem immer noch schmerzenden Magen fragte sie: »Woran sind die Kinder gestorben?«
»Das weiß man nicht, Herrin.«
»Was soll das heißen?«
»Sie … nun … Sie hatten Fieber. Fieber und Magenkrämpfe.«
»Dann weiß man es ja doch.«
»Ja.« Märthe scharrte unglücklich mit dem Fuß über den Boden. Sie log, und wenn sie nicht log, dann sagte sie zumindest nicht die ganze Wahrheit.
»Und wo ist die Mutter …« … die Mutter begraben?, wollte Sophie fragen. Warum liegt sie nicht bei den Kindern? Doch stattdessen stieß sie einen Schrei aus. Plötzlich zog sich ihr ganzer Unterleib in einem grässlichen Schmerz zusammen. Es war so schlimm, dass sie nach der nächsten Stuhllehne fasste und sich krümmte.
»Gütige Jungfrau! Herrin … was ist los, Herrin?«, rief Märthe entsetzt.
»Das gefällt mir nicht. Nein, das gefällt mir ganz und gar nicht«, flüsterte Gundula, die Hebamme aus Hecken, die man eilends herbeigeschafft hatte, nachdem sie Sophie untersucht hatte. Eva saß mit blassem Gesichtchen hinter dem Spinnrad. Märthe rang die Hände. Nur von Gesche war nichts zu sehen. Sie schien die Burg verlassen zu haben, obwohl inzwischen ein Sturm aufgekommen war, der die Fensterläden schüttelte und das Land in Finsternis versinken ließ. Im Spalt zwischen den Holzläden konnte Sophie Blitze herniederzucken sehen.
Sie lag zitternd unter ihrer Decke und starrte ängstlich auf Gundula. Sie hatte Angst. Sicher würde Marsilius sie zur Verantwortung ziehen, wenn seinem ungeborenen Kind ein Leid zustieß. »Was ist denn nun?«, fragte sie kläglich.
Einer der Fensterläden riss aus seiner Verankerung und schwang auf. Sophie sah die Hebamme ans Fenster treten, wo sie
Weitere Kostenlose Bücher