Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
umgesetzt. Die Brüder konnten ihn gerade noch davon abhalten, seine eigene
Muskete zu verkaufen. Wahrscheinlich wollte er damit die Angst vor der drohenden
Schlacht ausblenden. Jeder geht damit anders um, hatte Maximilian gesagt, als Lorenz
ihn aufforderte, seinem Freund zu helfen. Ratte sah man immer weniger. Zunächst
waren es nur wenige Stunden, in denen er wegblieb, dann kam er erst zum Morgengrauen
auf den Zeltplatz der Partisanen zurück.
»Was geht dich das an?«, hatte er gezischt, als Lorenz ihn darauf ansprach.
Lorenz konnte nicht glauben, dass das Leben hier
in diesem riesigen Kriegslager sie innerhalb von wenigen Tagen so verwandelt hatte.
Allerdings war ihm bewusst, dass auch er sich verändert hatte. Die Nächte waren
beinahe kürzer als in Vaters Schmiede, und doch spürte er keine Müdigkeit. Andererseits
wurde er den Tag über nie richtig wach. Seine Arbeiten erledigte er wie durch eine
milchige Wand aus Glas. Maximilian musste ihn mehrmals ansprechen, bevor er ihn
und alles um sich herum wahrnahm. Alles schien so unwirklich, wie in den wenigen
Sekunden zwischen Traum und Aufwachen.
Nach und nach häuften sich die Gerüchte, dass die
Schlacht nun bald beginnen würde. Die französisch-schwedische Armee wäre nur noch
einen Tagesmarsch von ihnen entfernt, und bei Anbruch des nächsten Tages würden
die Truppen aufeinandertreffen. Es war nun gerade einmal sechs Tage her, seitdem
sie Kempen verlassen hatten, und schon wirkte Lorenz seine Heimat so fern, dass
er nicht einmal mehr wusste, ob er Antonellas Lippen wirklich einmal geküsst hatte
oder ob es nur ein wunderschöner Traum gewesen war. Er spürte die Angst der anderen
Partisanen, sah die Furcht in ihren Augen und das Grauen, das sich langsam aber
unaufhörlich über ihnen zusammenbraute. Zu seiner eigenen Überraschung war er froh,
dass die Schlacht nun bald ihren Anfang fand. Zu unwirklich kam ihm dieser Ort hier
vor. Tausende von Männern, eingepfercht in ein dreckiges Loch, nur wartend auf diese
eine schreckliche, todbringende Aufgabe. Als die Nachricht vom Eintreffen der feindlichen
Truppen vom Kompanieführer bestätigt wurde, konnte er zum ersten Mal, seit er hier
war, schlafen. Es würde also beginnen. Als er sich auf seine Wolldecke legte, lächelte
er. Denn schließlich war jeder Tag, den er hier ausharren musste, ein weiterer Tag,
an dem er nicht mit Antonella zusammen sein konnte. Den letzten Blick auf seinen
vor sich hinmurmelnden Bruder werfend, schloss er die Augen und fiel in einen tiefen
Schlaf.
Sankt Tönis bei Crefeld , 17. Januar 1642
Das Spiel der Trompete weckte ihn bereits früh. Verwundert musste er
sich die Augen reiben, als der Kompaniechef von Zelt zu Zelt ging und überprüfte,
ob die Männer bereits wach waren. Waren sie in den letzten Tagen weitestgehend allein
gelassen worden, überprüften die Offiziere und Unteroffiziere nun beinahe jeden
Schritt. Man musste fragen, um austreten zu dürfen, und begründen, warum man so
lange gebraucht hatte. Es war kühl an diesem Morgen, und die letzten Lagerfeuer
pusteten ihren Rauch über die mit Hecken und Büschen durchzogenen Felder. Der Nebel,
der ruhig in den Senken der kleinen Bäche lag, fing sich in der klammen Kleidung.
Sofort nach dem Anziehen mussten sie die Zelte abbauen und verstauen. Danach ließ
der Kompaniechef sie antreten und teilte ihnen mit, dass die Partisanen das Zentrum
verstärken würden.
»Das Zentrum«, wiederholte Maximilian leise.
Auch wenn jedem klar war, dass sie nun bei den Ersten sein würden,
die Feindberührungen hatten, schien seinen Bruder dieser Gedanke zu erfreuen. Ganz
leicht zog er die Mundwinkel nach oben und blickte Lorenz an.
»Jetzt bekommen wir ein paar Franzmänner!«, sagte er leise.
Das Einzige, was Lorenz antworten konnte, war ein gequältes Lächeln.
Innerhalb von zwei Stunden war die Ausrüstung der Soldaten verstaut
und die Zelte abgebaut. Der ehemalige Lagerplatz war jetzt nur mehr ein plattes
Feld, worüber sich langsam der Schnee legte. Er bedeckte den braunen, aufgeweichten
Boden, die gegrabenen Löcher, den stinkenden Unrat und auch die flachen Gräber einiger
Leichen, die zurückgelassen werden mussten. Mit einem letzten Blick auf das Feld
schnürte Lorenz den Rucksack auf den Rücken. Endlich. Obwohl es früh am Morgen war,
stand die Sonne bereits am Himmel und schenkte den Männern zum Marsch ein paar wärmende
Sonnenstrahlen. Lorenz reckte sein Gesicht der Sonne entgegen und genoss das
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