Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
fort. Sieben Tage, die
ihr so lange wie Wochen vorkamen. Flink wusch sie sich und legte ihren Arbeitsrock
an. Wie auch in den letzten Tagen, führte sie ihr erster Gang in das Büro ihres
Vaters. Konzentriert arbeitete er einige Depeschen durch. Antonella verbeugte sich.
»Guten Morgen, Vater, gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«, wollte sie
wissen.
Mild lächelnd blickte er auf. »Nein, tut mir leid, mein Kind.« Aus
seinen Augen sprach Verständnis.
Einige Sekunden vergingen schweigend.
»Wirst du heute wieder zu Hause bleiben?«, frage er schließlich.
»Ja, Vater«, waren die einzigen Worte, die über ihre Lippen kamen.
Zufrieden wandte er sich wieder den Schriftstücken zu. »Das ist gut.
Danke schön.«
Antonella senkte ihren Blick zu Boden, dann verabschiedete sie sich
mit einem Knicks. Sie wusste, warum Vater dies seit einiger Zeit jeden Morgen ansprach.
Schließlich hatte sie die Gerüchte gehört. Überall in der Stadt schien es zu rumoren,
zu kochen. Seitdem die Freiwilligen ausmarschiert waren, lag eine alles zermürbende
Ängstlichkeit über der Stadt. Sie schien sich in jeden einzelnen Bürger hineingefressen
zu haben. Die Leute wirkten abweisend, beobachtend, verschlossen. Als ob an jeder
Ecke ein Feind lauern könnte. Nur widerwillig öffnete ihr Geist die Erinnerungen,
die sie händeringend zu verdrängen versucht hatte. Am ersten Tag war sie mit dem
Bürgermeister am Marktplatz gewesen. Sie wollte nur einige neue Behälter kaufen,
doch sie spürte das Tuscheln und die brennenden Blicke in ihrem Rücken. Allerorts
war es zu hören: »Hexe.«
Die Leute sprachen dieses Wort nicht laut aus, sondern im Verborgenen,
heimlich, still. Doch sie hörte es. Sie hörte es überdeutlich und ständig. Danach
hatte sie das Haus nicht mehr verlassen. Sie wollte Vater keine weiteren Umstände
machen. Er hatte beileibe schon genug damit zu tun, die Gerüchte zu zerstreuen.
Tief in ihre Gedanken vergraben, ging sie in die Küche. Schon seit Tagen hatte sie
keinen Appetit, doch die Köchin bestand darauf, dass sie morgens zumindest eine
Schnitte aß.
So setzte sie sich allein an den großen Tisch und kaute lange auf einer
Scheibe Brot herum. Dann schreckte sie hoch.
Als sie die allzu bekannten, tippelnden Schritte auf der Treppe vernahm,
stürzte sie aus der Küche heraus.
»Elisabeth«, hauchte Antonella, den Blick auf ihre Schwester gerichtet.
Doch deren Augen blieben starr geradeaus gerichtet, ihr Gesicht steinern.
Nicht eine Regung war zu sehen. Bereits seit Tagen kam nicht ein Wort mehr über
ihre Lippen. Ihr helles Kleid wehte beinahe, so schnell, wie sie die Treppe hinunterstürzte.
»Elisabeth, bitte, so lass mich doch erklären …«
Als würde Antonella gar nicht existieren, schob Elisabeth sich wortlos
an ihr vorbei. Verzweifelt blieb Antonellas Blick an ihr haften.
»Bitte, rede doch mit mir, wo gehst du hin?«, flehte sie.
Als Elisabeth die Tür bereits geöffnet hatte, sah sie ihrer Schwester
für eine Sekunde in die Augen.
»Weit weg von dir!«, fauchte sie, schnellte hinaus und warf knallend
die Tür ins Schloss.
Einige Sekunden verharrte Antonella auf der Treppe. Dann schlich sie
langsam in ihr Zimmer. Geräuschlos schloss sie die Tür hinter sich. Die Tage allein
hier waren lang, sehr lang. Sie wollte zum Bücherregal gehen, sich ablenken, irgendetwas
tun. Doch so weit trugen ihre Beine sie nicht. Innerhalb von wenigen Herzschlägen
füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ihre weiße Haut verfärbte sich rötlich, als
sie zusammenbrach und sich auf den Boden kauerte. Sie versuchte leise zu weinen,
hielt sich selbst den Mund zu, doch ihr bitterliches Schluchzen erfüllte das Zimmer
und kam ihr unendlich laut vor. Die Wärme ihrer Tränen erschreckte sie beinahe selbst.
Wie Perlen sammelten sie sich auf ihrem Arbeitsrock und hinterließen kleine, feuchte
Flecken. So ging es bereits seit Tagen. Sie erkannte ihre Schwester, mit der sie
früher über alles geredet hatte, nicht mehr wieder. Selbst die Schlichtungsversuche
ihres Vaters schlugen allesamt fehl. Immer wieder endete es mit einer lauten Hasstirade.
Doch selbst diese war nicht an sie gerichtet. Es schien, als würde Antonella für
ihre Schwester einfach nicht mehr vorhanden sein. In Elisabeth schien der Zorn zu
brennen, und dieser hatte nur ein Ziel.
»Wenn man einsam ist, werden die Wünsche ganz
klein«, hatte sie in einem Gedichtband gelesen. Antonella hatte nie ganz verstanden,
was es damit auf sich hatte. Jetzt tat sie es.
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