Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
von seinen beiden Töchtern,
am Straßenrand. Während Elisabeth Lorenz keines Blickes würdigte, sah Antonella
ihm direkt in die Augen. Lorenz hielt sich absichtlich etwas weiter rechts, um ihr
noch näher zu sein. Die Sekunden wurden zu Minuten, bis er sie schließlich erreicht
hatte. Übergroß schien das Verlangen, sie zu berühren, sie in den Arm zu nehmen,
sie zumindest für einen Augenaufschlag küssen zu können. Nur noch wenige Ellen trennten
die beiden, da erkannte er, dass sie genauso dachte. Sie tippelte beinahe, machte
kaum bemerkbare Schritte in seine Richtung. Automatisch, ohne nachzudenken, streckte
er die Hand nach ihr aus. Erst zögerlich ergriff sie die seinige und drückte sie
fest zusammen. Er spürte die Hitze, die von ihr auszugehen schien, und für einen
Moment hatte er das Gefühl, selbst Feuer zu fangen. Er hielt sie, solange es nur
möglich war, doch irgendwann musste er weitergehen und ihre Hand von seiner gleiten
lassen.
»DU HEXE!«, hallte Elisabeths Schrei über den gesamten Marktplatz.
Es schien, als wären alle Augenpaare der Bewohner auf sie gerichtet. »Du hast ihn
verführt, ihn mir ausgespannt, nur du wusstest davon!«
Ein verängstigtes Raunen ging durch die Masse, jeder darauf bedacht,
keinen Augenblick zu verpassen.
»Du hast ihn mir ausgespannt. Ausgerechnet du!«, schäumte sie weiter.
Antonellas leise Erklärungsversuche wurden im Keim des aufkommenden Sprachgewirrs
erstickt.
Nur unter großer Anstrengung konnte der Bürgermeister seine Tochter
zurückhalten. Ihr Gesicht war zerfressen von Zorn, und die Röte konnte ohne Probleme
mit der Farbe der Fackeln mithalten. Lorenz vernahm vereinzelte Rufe aus der Masse,
deren Wortlaut er nicht verstand. Endlich hatte Bürgermeister Dannen es geschafft,
Elisabeth etwas zu besänftigen. Ruhig redete er auf sie ein. Bereits im Begriff,
seine Tochter nach Hause zu bringen, konnte er jedoch nicht verhindern, dass sie
sich losriss und erneut auf Antonella zuschoss. Letztere war nun völlig verängstigt,
hatte den Blick gesenkt. Lorenz wollte zu ihr eilen, ihr beistehen, doch die harte
Hand seines Bruders und die ihn fortdrängenden Freiwilligen hielten ihn davon ab.
»DU HEXE!«, wiederholte Elisabeth schrill kreischend. Dann spuckte
sie auf den Boden vor Antonellas Füßen. Mit leichter, aber bestimmter Hand schob
Bürgermeister Dannen die beiden schnell vom Marktplatz. Gern hätte Lorenz Antonella
Mut zugesprochen, sie in den Arm genommen, doch der unerbittliche Marsch der Partisanen
und das Schubsen der Menschenmenge rissen ihn einfach mit. Kurz bevor er die anliegenden
Straßen erreichte, schoss Lorenz’ Kopf automatisch zum Pfarrer, der das Schauspiel
ruhig, aber mit wachen Augen beobachtete. Sie waren bereits etliche Ellen entfernt,
trotzdem fixierte der Geistliche ihn. Die letzten Menschen, die auf dem Markplatz
standen, lächelten nicht mehr. Auch nickten sie ihnen nicht mehr anerkennend zu.
Lorenz wusste, was sie dachten. Eine alte Frau, mit runzeligem Gesicht und einer
dicken Warze auf der Hakennase, ganz am Ende des Marktes, war die Einzige, die ihm
genau diesen Gedanken giftig ins Gesicht spuckte: »Hexenfreund!«
Kapitel 9
- Das dreckige Monster -
Bis Crefeld hatten sie nur wenige Stunden gebraucht.
Obwohl die Wolkendecke dicht war und kaum Mondlicht auf ihren Weg scheinen ließ,
waren sie doch zügig vorangekommen. Die Begrüßung im Lager war rau und kurz gewesen.
Beinahe verärgert, dass sie ihn in seiner Nachtruhe störten, hatte der Quartiermeister
ihnen Plätze zum Schlafen zugewiesen. Verwundert rieben sich die Freunde die Augen.
Es war beileibe nicht das strukturierte, militärische Lager, mit Fahnen und glänzenden
Uniformen, welches sie erwartet hatten. Sie sahen auf einen stinkenden Moloch aus
Kot und Dreck, aus zusammengeschneiderten Zelten, verschiedenen Uniformen und aus
raufenden Männern, die nahezu alle betrunken waren. Der nasse Schlamm schien überall
zu haften. Nur widerwillig legten sie sich auf den aufgeweichten Boden des kalten
Zeltes und versuchten, ein wenig Ruhe zu finden. Am nächsten Morgen sollten sie
sich bei ihrem Kompanieführer melden, der ihre dürftige Ausbildung fortsetzen würde.
Das Essen im riesigen Lager war schlecht bis kaum vorhanden. Schon bald mussten
die Brüder auf die Reserven zurückgreifen. Zu viert aßen sie heimlich, denn Neid
und Missgunst waren groß. Doch auch das Geschenk ihrer Eltern hielt nur drei Tage.
Allerorts gab es Auseinandersetzungen, Geschrei
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