Die Hexe von Hitchwick
Kopf.
Morgan zögerte einen Augenblick, dann steckte sie den unterarmlangen Gegenstand in eine Schnalle an ihrem Gürtel. Zwar glaubte sie nicht, dass der Durchgang in Leonies Zimmer von jemand anderem als von Jasmine benutzt werden würde, allerdings konnte die Gefahr von anderer Seite kommen, einer Seite, die sie noch nicht entdeckt hatten.
Morgan öffnete den Aktenkoffer, in dem sich die Ausweise befanden, und nahm ein kleines Schächtelchen heraus. Ihr Inhalt bestand aus unscheinbarer, rötlicher Kreide, die allerdings nicht weniger mit normaler Schulkreide zu tun haben konnte wie Erdbeeren mit Eisbären. Es war spezielle Kreide für okkulte Zeremonien, bestehend aus Torf, Friedhofserde, Knochen aus Gräbern jenseits der Friedhofsmauern und unschuldigem Blut. Die Mischung aus Heiligem und Unheiligem ermöglichte den Einsatz auf beiden Seiten. Ob sie für eine gute oder eine böse Beschwörung eingesetzt wurde, entschied der Besitzer. In diesem Fall sollte sie es Sug ermöglichen, den Durchgang am Eingang des Dorfs zu versiegeln, indem sie das Tetragrammaton, ein Pentagramm, gefüllt und umschrieben mit magischen Worten und dem Namen Gottes, draufzeichnete.
„Brauchst du noch etwas?“, fragte Morgan und leichte Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.
„ Ich habe meinen Rosenkranz. Außerdem glaube ich kaum, dass ich mitten auf der Straße angegriffen werde. Das, was hier läuft, passiert hinter verschlossenen Türen. Auch wenn das halbe Dorf daran beteiligt ist, so ist diese Hälfte sehr darauf bedacht, es vor der anderen geheimzuhalten. Sobald ich fertig bin, komm ich nach. Pass du lieber auf dich auf. Ach, hast du die Dietriche?“
„Besser. Ich habe Leonies Schlüssel.“
Da sie nur zu zweit waren, kam es bei fast jedem Fall vor, dass sie getrennt Aufgaben erledigen mussten und oft auch die von der gefährlicheren Sorte, trotzdem blieb bei der Trennung immer ein mulmiges Gefühl. Vier Augen sahen mehr als zwei, Rücken an Rücken hatte man eine 360°-Sicht, jeder passte auf den anderen auf.
Morgan verschloss das Auto, nickte Sug zu und sagte: „Bis gleich dann.“
„Bis gleich“, erwiderte Sug und wandte sich schnell in die Richtung des Pentagramms, je schneller sie ihre Arbeit erledigte, umso schneller konnte sie Morgan beistehen.
Die Sparsamkeit in Sachen Straßenbeleuchtung erwies sich nun als wahrer Segen. Die Dunkelheit schien am Ortseingang ein wenig dunkler zu sein und verschluckte Sug mit ihren schwarzen Haaren und ihrer dunklen Kleidung. Noch ein weiteres Detail dieser recht ruhigen Gegend kristallisierte sich als Vorteil heraus, es war ruhig, so ruhig, dass kaum ein Auto ab den Abendstunden mehr fuhr. Das würde Sugs Aufgabe um einiges erleichtern, es konnte ziemlich nerven, wenn man ständig Autos ausweichen musste oder angepöbelt wurde.
Ein rötliches Schimmern zeichnete sich vor Sug auf der Straße ab. Das ersparte ihr eine neuerliche Suche mit IDA, veranlasste sie aber auch dazu, die Worte leichter und schnell für die nächsten Stunden aus ihren Gedanken zu streichen. Sug hoffte inständig, dass der Schimmer nur ein leichtes Vorglühen war, so wie man den Ofen erst einige Zeit vorheizte, bevor man das Essen hineinschob.
Lass das Tor bitte noch nicht offen sein , flehte Sug in Gedanken und verlangsamte ihre Schritte.
Es gab drei Möglichkeiten und nur eine war akzeptabel.
Etwas war bereits in diese Welt herübergekommen.
Schlecht.
Etwas war im Begriff hindurchzukommen.
Schlecht.
Es glühte nur so vor sich hin, Sug hatte aber noch genügend Zeit den Durchgang zu versiegeln.
Akzeptabel.
Unruhig warf Sug einen Blick die Straße entlang.
Keine Autos, keine Menschen.
Das Pentagramm glomm in seiner ganzen Pracht. Zwar wusste sie nicht, ob es stets nur leicht schimmerte oder bei voller Macht hell leuchtete, doch sowohl ihr Verstand wie auch ihr Gefühl sagten ihr, dass noch nichts sein Reich verlassen hatte. Es war dunkel, nichtsdestotrotz lag noch zu viel Wachheit über dem Dorf, und nur weil zwei Fremde sie störten, würden sie eine Offenlegung ihres kleinen Geheimnisses nicht provozieren. Ob es nun die Hexe war, oder einige andere Kreaturen, es wartete auf der anderen Seite des Pentagramms. Dieser Gedanke machte Sug ein wenig Mut und ließ den Unwillen, sich dem Durchgang bis auf wenige Zentimeter zu nähern, sinken. Sie zog den Rosenkranz vorsichtig mit Zeigefinger und Daumen unter dem Börtchen ihrer Jacke hervor, öffnete die linke Hand und entnahm ihr mit der rechten
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