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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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ich Euch jetzt, für den Tag, wenn ich groß sein werde. Von ihr habe ich gelernt, daß es so gemacht wird. Kümmere dich um Menschen, und sie kümmern sich um dich – wünscht Ihr heute die mit Edelsteinen besetzten Kämme?«
    »Nimm alles aus der Schatulle, Sylvie. Diese Hofdamen halten nichts von Bescheidenheit. Sie messen deine Tüchtigkeit an deinen Kleidern. Ja, die Perlen, und auch die Brosche und das silberne Kruzifix.«
    »Meiner Seel, das sieht hübsch aus: ganz wie ein altes Porträt.« Sie trat zurück, um ihr Werk zu bewundern. Die Marquise de Morville blickte kritisch in den Spiegel und fauchte: »Die Spitzenkrause eignet sich heute besser als die leinerne, Sylvie. Ich nehme an, du hast sie frisch gestärkt. Das heißt, wenn die Stärke etwas taugt. Ah, zu meiner Zeit war die Stärke von viel besserer Beschaffenheit –«
    »Ich glaube wahrhaftig, es macht Euch Spaß, die gräßliche alte Dame zu sein, Madame«, bemerkte Sylvie.
    »Sylvie, ich wünsche keine Vertraulichkeiten. Ich bin die gräßliche alte Dame. Daß du das nie vergißt. Die Marquise de Morville ist eine furchterregende Monstrosität.«
    Kurze Zeit später schritt die unheimliche alte Dame, der Schrecken der Nachbarschaft, verschleiert zur Türe hinaus; ihr schwerer Stock stampfte aufs Trottoir. Ein türkischer Zwerg hob ihre Schleppe über den Schlamm, ihr Lakai, dem man den entflohenen Sträfling ansah, beeilte sich, den Wagenschlag aufzuhalten, und die nicht gekennzeichnete Equipage ratterte durch den leichten Frühjahrsdunst zur Rue Vaugirard.

    Die Empfangsräume des Hauses im Bezirk Vaugirard waren elegant, wie es einem Hause ansteht, das möglicherweise von einem König besucht wird. Sogar die Vorzimmer waren mit seidenen Tapisserien und mit Stühlen und Tischen aus seltenen Intarsienhölzern ausgestattet. Schwere vergoldete Leuchter, in denen ein Dutzend Kerzen brannten, standen in den Ecken. Im großen Saal hingen Gemälde in vergoldeten Rahmen: Venus, die vor ihrem Spiegel von Amoretten geschmückt wird, Europa und der Stier, am Ehrenplatz ein Porträt des Königs. Dahinter ging es über eine weitere marmorne Treppe und durch ein hohes Schulzimmer, in dem ich zwei kleine Knaben an Schreibpulten sah. Der ältere, sechs oder sieben Jahre alt, war der Knabe, den ich an jenem Tag auf der Fahrt nach Versailles in der Kalesche gesehen hatte. Der jüngere, er zählte vielleicht erst drei oder vier Jahre, trug bereits die Miniaturausgabe der bestickten Roben und des Kruzifixes des Abbés des großen Klosters, dessen Leitung nebst Einkünften sein Vater ihm übertragen hatte. Als der größere Knabe aufstand, um der düster gekleideten Gouvernante seine Arbeit zu zeigen, sah ich, daß er hinkte.
    Die Mutter dieser Kinder und der anderen droben in der Kinderstube ruhte in einem verdunkelten Schlafgemach auf einer vergoldeten Bettstatt, das Urbild der gramgebeugten Frau. Eine kalte Kompresse lag auf ihrer Stirne, und ihre dunkelblonden Haare lagen feucht um ihren Hals.
    »Madame, die Wahrsagerin ist da.«
    »Ah, das Ungeheuer, das meine Verbannung voraussagte. Laß sie näher treten, damit ich sie sehen kann.« Sie ließ sich aufrichten und die Kompresse fortnehmen. Sie sah mich lange mit ihren aquamarinblauen Augen an. Ich entdeckte in ihnen eine berechnende, boshafte Schläue, die durch den schmalen, kleinen Mund über dem leicht fliehenden Kinn noch unterstrichen wurde. Ich machte einen tiefen Knicks wie vor einer Königin.
    »Wie könnt Ihr es wagen, mich vor der Comtesse de Soissons zur Zielscheibe des Spottes zu machen!« Die aquamarinblauen Augen wurden hart wie Edelsteine im Kopf eines Basilisken.
    »Ich bedaure zutiefst, Madame. Es war nicht meine Absicht. Ich lese nur im Glas und sage aufrichtig, was ich sehe.«
    »Die Comtesse de Soissons ist ein eifersüchtiges, intrigantes Weibsbild. Eine häßliche, verlebte kleine Italienerin, die sich einbildet, die Gunst des Königs gewinnen zu können. Eine Mancini. Emporkömmlinge. Mein Blut, das Blut der Mortemarts, ist älter als das der Bourbonen. Gegen meine Familie verblaßt selbst die königliche. Begreift Ihr Euer Vergehen?« Sie setzte sich in plötzlich aufwallendem Zorn im Bett auf. »Ihr habt eine Mortemart vor einer Mancini der Lächerlichkeit preisgegeben.« Ihre Stimme sprach den Namen voller Hohn aus. »Wie könnt Ihr es wagen, ihr in die Hände zu spielen? Wie könnt Ihr es wagen, mich zu beleidigen? Ich habe noch immer die Macht, Euch zu vernichten. Ich sage Euch, ich

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