Die Hexe von Paris
Innentasche.
Hoho, Großmutter, wie gerne würde ich Euch dies erzählen. Ich würde lauthals lachen, wenn ich Euer Gekicher vernähme, während ich die Stimmen für Euch nachahmte. Und dann würde auch Euer Vogel kichern, genau wie Ihr, und auf und ab hüpfend kreischen: »Hölle und Verdammnis! Feuer und Schwefel!« Und Ihr: »Habe ich es dir nicht gesagt, Geneviève? Nur die Tückischen werden heutzutage reich. Es ist nicht wie in alten Zeiten, als es noch Helden gab. Hast du in der Offenbarung von der Verdammnis gelesen?« Und sie würde ihre Bibel von der Nachtkommode nehmen, um über das Höllenfeuer zu lesen. Aber der Papagei hatte geschrien: »Trinkt, trinkt!« Plötzlich war mir kalt. Im Geiste sah ich es deutlich vor mir. Den Gedanken, den zu denken ich mir nicht gestattet hatte. Das rollende Likörglas. Der Herzanfall. Der nachplappernde Papagei hatte jemanden schreien hören: »Trinkt, trinkt!« Jemanden, der Großmutter für eine taube alte Närrin hielt. Jemanden in verzweifelter Hast, der Großmutters störrischen, fest zusammengepreßten Kiefer aufstemmte, um ihr den Inhalt des Likörglases die Kehle hinabzuschütten, indes die alte Dame sich vergeblich sträubte. Jemanden, der einer verbissen geballten Faust einen an den Polizeipräfekten gerichteten Brief entriß. Jemanden, der wußte, daß die Kutsche unten wartete, der meinen Schritt auf der Treppe hörte und mit rauschenden Taftunterröcken davoneilte. Großmutter mit den gescheiten Augen und dem runzligen Antlitz, Großmutter, bettlägerig zwischen ihren libelles, Flugschriften und Hofjournalen, sie hatte entdeckt, was allen anderen entgangen war. Vaters Krankheit war keine Krankheit. Und ihr eigener Tod war der Beweis. Mein Verstand floh vor dem Gedanken. Doch das Bild vom Sterbezimmer, in dem der Papagei wild von der Vorhangstange auf den Baldachin des Bettes flatterte, stand wie ein wahnwitziger Traum vor meinen Augen. Wie viele kleine Phiolen mit weißem Arsenik, mit Nieswurz, Eisenhut mit mort aux rats verwahrte Mutter zwischen Rougetiegeln und Schönheitspülverchen im Schränkchen ihres Schlafgemachs? Halt ein, halt ein. Vernünftiges Denken muß von Logik bestimmt sein. Aber dann blieb der Logik nur eine einzige Frage zu lösen: Hatte Mutter ihren Bruder bewogen, ihr das Gift zu besorgen, oder hatte sie es sich eigenhändig in der Rue Beauregard geholt?
»Vater, ich habe Euch im Stich gelassen«, flüsterte ich in die Dunkelheit. Als ich aber nach der Flasche mit dem widerlichen süßen Sirup tastete, konnte ich das Gelächter der Schattenkönigin hören. Sarkastisch, spöttisch kam es mir aus dem Dunkel entgegen wie dämonische Musik, so daß sich meine Nackenhaare sträubten. Ich saß vollkommen still. Etwas Seltsames geschah in meinem Innern. Ein schmerzhaftes Winden, als würde ein Ungeheuer geboren. Dann erkannte ich es. Es war Zorn. Purer Zorn. Eine rote Flutwelle aus geschmolzenem Eisen. Unendlich wie ein Ozean. Wie das Universum. Ich stellte die Flasche ungeöffnet zurück.
KAPITEL 17
M adame.« Sylvies Flüstern weckte mich. Es dämmerte. »Wir haben das Blut von der Schwelle gewaschen. Die Spur führt von der Mitte der Straße bis zur Ecke. Es sieht aus, als sei er dorthin gegangen.«
»Sehr gut, Sylvie. Wir mieten eine Sänfte und schicken ihn heute nachmittag zu seinen Leuten, und dann kann er uns nicht mehr schaden.« Mein Kopf begann zu schmerzen, und der Magen tat mir weh.
»Das ist schlau – sollen sie den Wundarzt rufen und sich in Gefahr bringen. Hoffen wir, daß die Polizei nicht auf die Herren hört, die sie festgenommen hat, und keine Hausdurchsuchungen in der Nachbarschaft vornimmt. Sonst werden wir bestimmt verhaftet, weil wir einen Flüchtling beherbergt haben.«
»Leider nimmt La Reynie seine neuen Straßenlaternen so ernst«, bemerkte ich seufzend. »Aber täte er es nicht, wären die Straßen, ehe der Mond aufgeht, schwarz wie Pech.«
Ich saß angekleidet im Salon, in Erwartung meiner ersten Klientel, als es klopfte. Es war kein gewöhnliches Klopfen. Über mir hörte ich Getrippel, und da wußte ich, daß sie oben aus dem Fenster etwas gesehen hatten. Es klopfte abermals. »Aufmachen, Polizei«, befahl eine Stimme. Als hätte ich es nicht von Anfang an gewußt.
»Mustafa, öffne ihnen, aber langsam.« Ich setzte mich am Tisch hinter meinem Glas in Positur und verhüllte mich mit meinem Schleier. Mustafa, prächtig anzuschauen in einem mit Federn geschmückten Turban, in bestickten türkischen
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