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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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mit ausladender Geste. Sie sah ihn dankbar an, als sei sie ihm schon halb verfallen. D'Urbec, der in ein Laken gehüllt an die Türe getaumelt war, kam gerade rechtzeitig, um des Anblicks teilhaftig zu werden.
    »O Florent, du darfst nicht aufstehen!« kreischte sie, als sie seiner ansichtig wurde, und erhob sich.
    »Zurück ins Bett, alter Freund«, sagte Lamotte mit gespielter Strenge. »Was immer es ist, es kann bis zu deiner Genesung warten.« Während er d'Urbec zurück in die Bedientenkammer geleitete, hörte ich ihn sagen: »Was zum Teufel ist in deine Mutter gefahren, d'Urbec?«
    »Mein Bruder Olivier. Ich fürchte, er hat mich ausgestochen.«
    »Ist es der, der zu Hause blieb und das Familiengewerbe erlernt hat? Ich dachte, er macht sich gut.«
    »Er hat das Gewerbe nur zu gut erlernt. Der Familienfluch, nehme ich an –« Der Anblick der eilends packenden Schwestern entfachte meine Neugierde.
    »Madame d'Urbec, kann ich behilflich sein?« fragte ich, alle Anzeichen von Bewegung in meiner Stimme und meinem Gesicht unterdrückend. Die kleine Frau setzte sich unvermittelt in ihren gemieteten Lehnstuhl und brach in Tränen aus. Sie zog ein großes Schnupftuch aus dem Ärmel und wischte sich zwischen den Schluchzern das Gesicht ab.
    »Ach, was versteht Ihr, bei Eurem Stand und Wohlleben – und dies alles – die Ihr ein hübsches Stadthaus Euer eigen nennt – Kleider, schöne Möbel –« wieder wischte sie sich die Augen, » – was versteht Ihr von dem Gram, eine Mutter zu sein? Sechs Söhne habe ich – sechs lebende Söhne –, und ein jeder ein frondeur, ein Unruhestifter, der mir Kummer macht. Steuern! Religion! Politik! Das alte Recht! Das neue Recht! Lauter Dinge, die höfliche Leute nicht erwähnen. Alles ist eine Rechtfertigung, um die Welt durcheinanderzubringen! Brandstifter sind sie, alle miteinander. Ein Familienfluch von ihres Vaters Seite. O Gott, wenn es doch Töchter wären, es wäre so einfach! Dann wäre das Schlimmste, das sie anstellen könnten, schwanger zu werden – aber von ihnen hat noch keiner es für nötig befunden, mir ein einziges Enkelkind zu bescheren. Und just, wenn ich denke, einer hat etwas Würdevolles getan – puff! ist es eine Maskerade! Ein Schwindel, eine Täuschung! Wieviel muß eine Mutter noch ertragen?« Sie schluchzte eine Weile, dann steckte sie ihr Schnupftuch ein und ging in das Zimmer nebenan, um ihrem Sohn Lebewohl zu sagen. Sie kam trockenen Auges zurück und verkündete: »Madame de Morville, ich könnte meinen Sohn in keinen tüchtigeren Händen zurücklassen. Gott segne Euch für Eure Tat der Nächstenliebe. Die Möbel können dem tapissier in der Rue de Charronne gleich hinter dem Festungswall zurückgegeben werden. Schickt nur Bescheid, und man wird sie abholen. Hier ist die Rechnung; laßt Euch nicht übervorteilen.« Und sie verschwand in einem Wirbel der Gefühle, am Arm Lamottes, ihre Schwester hinterdrein, während die Kälberfüße noch in der Küche kochten.
    »Ach«, seufzte d'Urbec, »da geht sie hin, meine Mutter und die Rettung meines Lebens.«
    »Grämt Euch nicht, Florent«, sagte ich, »ich werde dafür sorgen, daß Ihr anständig beerdigt werdet.« Er warf mir einen scharfen Blick zu.
    »Ich habe die feste Absicht, zu leben. Ich möchte die Erinnerung an diese reizende Katastrophe auslöschen.«
    »Erzählt mir zuerst, was das alles zu bedeuten hat – Mustafa, wenn du schon lauschen mußt, mache es nicht so auffällig.« Die hochgebogene Spitze von Mustafas kleinem türkischem Pantoffel hinter der halb geöffneten Türe verschwand aus dem Blickfeld. D'Urbec sah niedergeschlagen auf seine Hände, die so gar nicht zu einem gelehrten Menschen paßten: breit, mit kurzen Fingern und schwarzen Haaren auf dem Handrücken. Er drehte sie herum, betrachtete die dicken, rissigen Schwielen und seufzte abermals.
    »Ihr habt vermutlich nie von der Manufaktur d'Urbec et fils, Uhrmacher, gehört. Wenn Ihr aber Zeitmesser oder Uhrwerkfigurinen sammeln würdet oder eine alte Uhr instand setzen lassen wolltet, wenn Ihr dazu noch in der Nähe von Aix lebtet, dann würdet Ihr sie gewiß kennen. Großvater war Amateurastronom, der so sehr damit befaßt war, Linsen zu schleifen, daß er kaum bemerkte, wie sein Geld in seinen Teleskopen verschwand. Als seine Gläubiger sich des letzten Restes seines Besitztums bemächtigten, steckte er Vater zu einem alten Freund ins Geschäft, nahm Onkel von der Schule und ließ ihn bei einem Notar arbeiten –« D'Urbecs

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