Die Hexe von Paris
Marie-Angélique. »Laß den Vorhang lieber sogleich herunter, Geneviève. Mutter leidet es nicht, wenn wir fremde Männer anstarren.« Ich ließ den Vorhang fallen und griff zu meinem Skizzenblock. Und zwischen die pflichtschuldigst kopierten Blumen, die mir mein Zeichenlehrer aufgegeben hatte, zeichnete ich Lamottes junges Profil. Darunter schrieb ich: »Du sollst keine fremden Männer ansehen«, und zeigte es Marie-Angélique, die in Lachen ausbrach.
»Schwester, was soll ich nur mit dir machen? Du wirst niemals Anstand und Schicklichkeit lernen!« Ich lächelte, weil ich sie so fröhlich sah.
»Kommt, kommt, Mesdemoiselles, worauf wartet ihr?« Mutter eilte in ihrem Umhang herbei, einen Korb mit Kuchen, Obst und kleinen Törtchen am Arm. »Ich habe schon nach einer Kutsche geschickt, sie muß gleich hier sein. Ich seid keine Kinder mehr – es wird höchste Zeit, daß ihr christliche Verantwortung lernt.« Nein, wir waren keine Kinder mehr; es war das Frühjahr 1674. Ich war fünfzehn geworden, und Marie-Angélique war neunzehn, alt genug zu heiraten, wenn sie eine anständige Mitgift hätte. Mutter sah geschäftig aus. Wohltätigkeit war ihre neueste Marotte. Nun stattete sie den armen Kranken im Hôtel-Dieu, dem Wohlfahrtsspital am Platz nahe der Kathedrale Notre-Dame, allwöchentlich Besuche ab und brachte ihnen Almosen. Dies war der letzte Schrei, und Mutter liebte es, mit der Mode zu gehen. Zudem konnte man Damen der höchsten Stände begegnen, die in den Steinsälen des Hôtel-Dieu Wunden verbanden und Süßigkeiten verteilten; es kam beinahe einem Besuch in St. Germain oder Versailles gleich und war weitaus bequemer.
Die Wohltätigkeitsmarotte war aufgekommen, kurz nachdem Vaters Gläubiger sich unserer Kutsche und Pferde bemächtigt hatten. Anfangs schien es mir gar nicht zu Mutter zu passen, die über Bettler die Nase rümpfte und sehr spärliche Trinkgelder gab. Doch schließlich war es große Mode, und sie ging ihre Wohltätigkeitsmissionen mit derselben energischen Hartnäckigkeit an, die sie in ihrem Salon walten ließ. Um die Gerüchte von einem schwindenden Vermögen zum Schweigen zu bringen, wollte sie nicht zu Fuß angetroffen werden, und sie achtete darauf, daß die Damen der Familie Pasquier gut gekleidet, mit vollgepackten Körben, Segenswünsche murmelnd, von Bett zu Bett gehend, mit den anderen aristokratischen Engeln der Barmherzigkeit gesehen wurden.
Jede von uns fand etwas Lohnendes in diesen Ausflügen. Noch Tage später ergötzte sich Marie-Angélique in Gedanken an die schönen Bänder der Marquise von Soundso oder der neuen Frisur der Comtesse Von-und-zu, und ich machte Einträge in mein Büchlein. Ich überprüfte zu jener Zeit die Gültigkeit der Religion durch Anwendung der geometrischen Methode, um die Wirksamkeit von Gebeten zu bewerten. Zuerst schrieb ich die Krankheiten derer auf, die wir besuchten, sowie die Wahrscheinlichkeit ihrer Genesung. Dann versuchte ich anhand eingehender Befragungen zu ermitteln, wie viele Gebete in jedem Fall verrichtet worden waren. Dies tat ich, indem ich die Anzahl der Verwandten mit einer Zahl zwischen eins und fünf multiplizierte, je nachdem, wie beliebt die Person bei ihrer Familie war. Danach schrieb ich auf, ob die Person die Voraussage überlebte oder nicht. Das Unterfangen befriedigte mich vollkommen. Schließlich ist der Gebrauch des geordneten Denkens zur Entdeckung der Wahrheit die erhabenste Beschäftigung der Menschheit.
Es tat Mutter gut, wohltätig zu sein; es machte sie ruhiger. An dem Tag, als uns die Kutsche genommen wurde, war sie kreischend durchs Haus gerast, hatte gegen die offene Türe von Vaters Studierstube geschlagen, wo er und ich über Epictetus diskutierten, und ihn mit Beschimpfungen überhäuft. Er sah zu ihr auf, wie sie vor seinem Lehnstuhl stand, und seine Augen bewegten sich sehr, sehr langsam, mit einem Blick, den ich nie vergessen werde.
»Madame, ich überlasse Euch Euren Treulosigkeiten, überlaßt Ihr mich meinen Philosophien.«
»Eure – Eure Dummheiten, Euer Mangel an Ehrgeiz, Eure Weigerung, Euch bei Hofe sehen zu lassen, meine Petitionen vorzutragen – Eure Römer haben mich erniedrigt. Sie haben mich in diese Lage gebracht, das ist mehr, als ich ertragen kann.«
Vater sprach mit äußerster Ruhe: »Der Tag, an dem ich bei Hofe erscheine, wird der sein, an dem ich den König ersuche, Euch für Euer skandalöses Leben in ein Kloster zu sperren. Geht, Madame, und stört mich nicht länger.« Er
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