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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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hintergangen. Das System war sehr kompliziert, und ich wollte meinen Verstand nicht damit befrachten, ist er doch wie ein Schrank. Wenn er voll ist, bekommt man nichts Neues mehr hinein. Deswegen präge ich mir nichts ein, was ich mir nicht einprägen will. Da ich aber, wenn ich die Augen schließe, alles vor mir sehe, woran ich mich erinnern will, bestand ich alle seine Prüfungen, und er befand sein System für erfolgreich und zog triumphierend von dannen.
    Als ich ging, hatte ich mir zehn Fälle eingeprägt. Zwei Patienten, die Mutter überhaupt nicht beachtet hatte, ging es besser. Von den übrigen acht waren fünf trotz einer reichlichen Dosis an Gebeten und Mutters Pastetchen gestorben, und zwei weitere hatten diese interessante graue Farbe angenommen, die dem Tod vorausgeht. Einer hatte sich gelb verfärbt. Er war wochenlang dahingesiecht und hatte derart gestöhnt, daß es einem im Innersten weh tat. An diesem Abend erleichterte mir das Schreiben in mein Buch das Herz. Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich sie nicht in Spitäler mitnehmen.
    Während wir uns im Spital aufhielten, hatte sich der Parvis de Notre-Dame belebt. Als wir uns durch das Gedränge schoben, zupften Bettler ohne Beine an unseren Röcken und riefen: »Helft einem alten Soldaten, vergeßt die Armen nicht.« Marie-Angélique wich vor ihnen zurück, aber Mutters Miene verhärtete sich, und sie schob sich an ihnen vorbei ins Dunkel der Kathedrale. Sie blieb nur ganz kurz vorne stehen, um sich zu bekreuzigen. Aber als meine Augen sich an das trübe Licht gewöhnten, bemerkte ich etwas Seltsames. Mutters Augen schienen größer als gewöhnlich, sie sahen merkwürdig naß aus und rollten in kleinen Zuckungen von einer Seite zur anderen. Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze, bevor sie sich zum Beten anschickte.
    »Laßt uns gehen«, sagte sie unvermittelt und packte Marie-Angélique am Handgelenk, um sie von ihrem Rosenkranz loszureißen. Als wir durch die Kapelle St. Jean le Rond hasteten, wirkte Mutter plötzlich furchterregend, hart, monströs. Nein, Geneviève, sagte ich mir, erschrocken über Mutters flüchtigen, fremdartigen Anblick. Deine Mutter ist fromm und fürnehm. Sie ist beinahe eine Matignon und macht alles, wie es sich ziemt. Nein, nein, Geneviève ist es, die hartherzig ist, die kleine Kalkulatorin, bei der Logik an der Stelle sitzt, wo ihr Herz sein sollte. Einen Augenblick wirbelte die Welt durcheinander, und ich meinte wahnsinnig zu werden. Doch dann ordnete sie sich, ich wurde wieder klein und häßlich, und Mutter groß und schön.

    »Ei, wohin des Weges, so ganz allein?« Ich war mit einem Korb, in dem die Überbleibsel des Spitalessens waren, zu unserer Hintertüre und zum Gartentor herausgekommen.
    »Zur Rue de la Licorne, wo Mutter eine bedürftige Familie kennt.«
    »Denk nur, bis heute morgen hatte ich keine Ahnung, daß du eine Tochter des Hauses bist. Ich dachte – hm, na –, du weißt schon, so wie du ganz alleine ausgehst und alles –« Der mitgiftjagende Kavalier lungerte immer noch auf der Straße. Ich ging an ihm vorbei, gekränkt, weil er mich für eine Dienstmagd gehalten hatte.
    »Ihr dachtet wohl, ich sei eine bezahlte Gesellschafterin?«
    »Warte, das kannst du nicht tragen. Ich begleite dich.« Er besaß einen gewissen windigen Charme. Den haben Mitgiftjäger oft, sogar empfindsame junge. Ich hielt den Korb fest, als er versuchte, ihn mir abzunehmen.
    »Daß ich nicht richtig gehen kann, heißt nicht, daß ich schwach bin«, sagte ich. »Überdies möchte ich Euch gleich aufklären, daß meine Schwester und ich keine Erbschaft haben, auch wenn das Haus noch so grandios ist. Verwendet Eure Anstrengungen lieber auf eine, bei der es sich lohnt.« Er lachte.
    »Was du nicht sagst, Kleine, aber kannst du Ritterlichkeit nicht einmal dann annehmen, wenn sie gut gemeint ist?« Er griff sich den Korb, aber ich tat so, als wisse ich nicht, daß er mir folgte, als ich vor den Ladenfronten Käse betrachtete und den Stiefelmachern zusah. Als ich einen großen Bogen um die Schenke »Zu den drei Trichtern« machte, nahm er meinen Arm, obwohl ich ihn nicht dazu aufgefordert hatte. Kein anständiges Mädchen sollte dicht an so einem vulgären Ort vorbeigehen, wo niemand aus gutem Hause je einen Fuß hineinsetzen würde, und die Zecher den Passanten zuweilen Zoten zurufen.
    In der Rue de la Licorne fragten wir nach dem Haus der Familie Dubois. »Gleich da vorne die Gasse hinunter«, sagte der alte Fuhrmann,

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