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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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schlug Epictetus an der Stelle wieder auf, die er mit seinem Lesezeichen markiert hatte.
    Mutter stand still, ganz weiß, die Augen halb geschlossen. »Ihr langweilt mich ungemein«, sagte sie kalt und entfernte sich, die Schleppe ihres blaßgrünen seidenen Morgenrocks mit der Hand anhebend.
    Danach fuhr sie für den Rest des Tages in einer Mietsänfte davon. Doch nicht lange danach entdeckte sie die Wohltätigkeit, und alles war wieder ruhig. Nur ihr Mittwoch schien noch ausgelassener denn je. Und Marie-Angélique war dort jetzt der Mittelpunkt. Manchmal spielte sie auf dem Klavichord, und manchmal beteiligte sie sich am Gespräch, während die Herren ihr Komplimente zollten. Einmal erspähte Mutter mich an der offenen Türe, als ich Marie-Angélique beim Spielen zuhörte, und wies mit ihrem geschlossenen Fächer auf mich.
    »Mein lieber Chevalier«, hörte ich Mutter sagen, als sie charmant den Kopf neigte, »manche Männer halten Hunde; mein Ehemann aber hält sich einen Affen.« Und ihr silbriges Lachen erklang hell über dem tiefen männlichen Gelächter. Ich hatte gedacht, jemand in meinem Alter könne über dergleichen nicht mehr weinen, aber das war ein Irrtum. Zum Glück war Großmutter wach, und sie las mir von den Leiden der Jungfrau vor, die mit meinem Fall nicht viel gemein hatten, aber zumindest eine Ablenkung waren.

    Doch ich muß auf unseren Spitalbesuch zurückkommen. Der junge Mann mit dem Schnurrbart und den Bändern schwenkte mit theatralischer Gebärde vor meiner Schwester den Hut, als wir die kleine Mietkutsche bestiegen.
    »Nicke ihm nicht zu«, sagte meine Mutter mit abgewandtem Gesicht. »Er hat kein Vermögen. Ich wünsche nicht, daß du solche Leute ermutigst.« Doch als die Kutsche in die Rue de St. Pierre-aux-Boeufs einbog, drehte ich mich nach ihm um. Er hielt den Hut vor sein Herz, einen sehnsüchtigen Ausdruck im Gesicht. Als er aber entdeckte, daß ich mich nach ihm umsah, grinste er, und ich glaubte ihn mit den Augen zwinkern zu sehen. Die Kutsche hielt im Vorhof der Kathedrale, dem Parvis de Notre-Dame, vor dem niedrigen gotischen Eingang des Hôtel-Dieu, und Mutter schickte den murrenden Kutscher ohne Trinkgeld fort. Nachdem sie ihren großen Auftritt zwischen den Kaleschen der Reichen gehabt hatte, pflegte Mutter auf dem Rückweg Sparsamkeit zu üben. Sie verließ das Spital und überquerte den Parvis de Notre-Dame, um die Kathedrale zu betreten, wo man sie mit ihren Töchtern im innigen Gebet für die armen Unglücklichen sehen konnte, die sie soeben besucht hatte. Wenn dann in der Mittagszeit niemand mehr auf den Straßen war, auf den es ankam, gingen wir zur Seitenkapelle St. Jean le Rond hinaus und zu Fuß die kurze Strecke zur Rue des Marmousets.
    Als wir aus der Kutsche stiegen, lenkte mich ein Tumult von dem Palaver ab, das der erzürnte Kutscher veranstaltete. »Fort, ihr schmutzigen Hunde!« schrie ein Priester und jagte eine Horde streunender Köter aus der Vorhalle der Kirche.
    »Oh, sieh nicht hin«, rief Marie-Angélique und hielt mir zu meinem großen Verdruß die Augen zu, so daß ich beinahe gestrauchelt wäre. Überdies hatte ich schon gesehen, daß die Hunde einen Säugling, der auf der Kirchentreppe ausgesetzt worden war, teilweise gefressen hatten. Es war nicht das Schlimmste, was ich auf den Straßen zu sehen bekam – Marie-Angélique ging eben nicht viel aus. Immerzu fand man Säuglinge im Unrat, Säuglinge im Fluß und Säuglinge auf Kirchentreppen – es sei denn, die Hunde oder Schweine fanden sie zuerst. Nein, das Schlimmste waren nicht die Toten: Einmal hatte ich in einer Gasse einen Mann gesehen, der ein kleines Kind zum Krüppel machte, um es zum Betteln anzustellen. Ich hatte einen Gendarmen gerufen, aber es hatte nichts geholfen, weil der Mann das Kind einer korrupten Pflegerin im Hôpital des Enfants Trouvés für einen Taler abgekauft hatte, so daß es sein Eigentum war und die Polizei nichts machen konnte. So lernte ich, mich nicht einzumischen, wie das alle anständigen Bürger von Paris früher oder später lernten.
    »Das arme kleine Waisenkind«, seufzte Marie-Angélique händeringend. »Der gute Priester hat es nicht rechtzeitig gefunden.« Mutter warf dem Priester einen kalten Blick zu, als er das, was übrig war, aufsammelte.
    »Waisenkind, wahrhaftig«, sagte sie. »Ein Bastard weniger, der von der öffentlichen Wohlfahrt zehrt. Er hätte es nicht weit gebracht, bei einer Mutter, die so dumm ist, ihn auf der Treppe statt im Innern der

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