Die Hexe von Paris
Vater sah mich lange an.
»Klug natürlich, meine Tochter, denn Schönheit vergeht geschwind, und ihr Besitz lohnt nicht. Die Römer glaubten, daß eine tugendhafte Frau keine andere Zierde nötig hat.«
»Aber Vater, so hieß es von Cornelia, deren Söhne ihre Edelsteine waren; denkt Ihr denn nicht, sie mußte wenigstens ein bißchen hübsch sein, um überhaupt zu heiraten und die Söhne zu bekommen? Ich meine, bleibt Tugend bei einem unansehnlichen Mädchen nicht ziemlich unerkannt?«
»Mein liebes, liebes Kind, vergleichst du dich wieder mit deiner Schwester? Sei versichert, für mich bist du viel schöner. Deine Gesichtszüge sind wie die meinen, der einzige Beweis, den ich für meine Vaterschaft habe.« Die Verbitterung in seinem Gesicht erschütterte mich.
Doch noch Tage danach sang mein Herz: »Nicht hübsch, aber etwas Besonderes. Vater hat mich von allen am liebsten.« Mein Geheimnis. Nichts konnte es mir nehmen. Ich mußte es nicht einmal in mein Büchlein schreiben.
KAPITEL 3
K omm her, Geneviève, schau, da draußen steht er wieder.« Marie-Angélique hob den Vorhang in ihrer Schlafkammer und winkte mich herbei. Ich legte meinen Skizzenblock beiseite, und gemeinsam spähten wir in den dunstigen Frühlingsmorgen hinaus. Gegenüber hoben Obstbäume mit dicken Knospen, kurz vor der Blüte, ihre Äste über die Gartenmauer. Und dort, in einem Torweg auf der anderen Straßenseite, erblickte der Mann unsere Gesichter und starrte hinauf, als wolle er sich die Szene einprägen. »Er kommt jeden Tag. Was glaubst du, was er will?« Marie-Angéliques Gesicht war freudig gerötet. Ich sollte aussprechen, was sie längst dachte.
»Er ist wohl in dich verliebt.« Der Ärmste. Hunderte kamen vor ihm. Der schwere Duft der Narzissen in der Vase an Marie-Angéliques Bett füllte das Zimmer mit Frühlingsahnung. Neben der Vase lag auf der kleinen Nachtkonsole ein Exemplar von »Clélie« mit einem bestickten Lesezeichen. Marie-Angélique liebte Romanzen. Sie waren der Maßstab ihres Lebens; eine Szene in der Wirklichkeit wurde danach beurteilt, wieweit sie jener Szene entsprach, in der Aronce Clélie seine Liebe erklärt oder Cyrus Mandane auf sein Luxusschiff entführt. »Angenommen, Marie-Angélique, Cyrus hatte ein schäbiges kleines Boot, was würdest du dann denken?« hatte ich sie einmal gefragt. »Ach, Geneviève«, erwiderte sie, »Mademoiselle Scudéry hätte sich so etwas Unpoetisches nicht einmal vorstellen können.« Sie hatte mißbilligend geschaut, und dann hatten ihre Züge sich aufgehellt. »Es sei denn natürlich, er war nur verkleidet und gab sich dann in seinem sagenhaften Juwelenpalast zu erkennen, so wie sie vorher erklärt hatte, sie werde ihn niemals lieben, weil ihr Herz Cyrus allein gehöre. O ja, das wäre auch wundervoll.« Arme Wirklichkeit – sie kam immer zu kurz im Vergleich mit den albernen Sachen, die Marie-Angélique las. Ich las damals mit meinem Vater Herodotos.
»Oh, glaubst du wirklich, er ist verliebt?« fragte sie entzückt. »Wie lange steht er schon da? Drei Tage?«
»Nein, fast eine Woche.«
»Oh, das ist schrecklich poetisch. Sag, sieht er nicht nett aus?«
Das muß der Frühling sein, dachte ich. Im Frühling verliebt sich jedermann in Marie-Angélique. Ich spähte abermals für sie hinaus. Er trug hohe Stiefel, ein kurzes, mit Bändern geschmücktes Wams, einen Degen mit einem bestickten Gehänge und einen kurzen Umhang, den er theatralisch zurückgeschlagen hatte. Sein Hut saß im kecken Winkel über seinem hageren Gesicht, aber sein Schnurrbart sah trotz der stark gewichsten Spitzen aus, als sei er der allererste, der ihm je gewachsen war. Er hatte zuvor älter ausgesehen, an dem Tag, als er mich nach Hause begleitet hatte und ich Mutters Parfüm trug. Heute aber schien er meinem erfahrenen fünfzehnjährigen Auge allerhöchstens neunzehn zu sein. Der Mitgiftjäger. Stutzerhaft wie eh und je, nun aber hoffnungslos verliebt.
»Wer mag es wohl sein?« fragte Marie-Angélique verträumt. »Er trägt gar keine Spitzen – oh, sehe ich da einen Ring? Nein – aber vielleicht hat er sich verkleidet.« Marie-Angélique war stets zuversichtlich.
»Ich habe ihn einmal gesehen, als ich mit Vater im Jardin du Luxembourg war. Er hat gelesen«, sagte ich.
»Ach, ein Student.« Marie-Angélique klang enttäuscht. »Aber vielleicht ist er ein Prinz, der Verantwortung zu tragen lernt, bevor er sein Amt antritt.«
»Ich glaube, sein Name ist Lamotte.«
»O nein«, erwiderte
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