Die Hexe von Paris
Kirche auszusetzen.«
»Ach, das arme verirrte Mädchen. Sie hat die Verdammnis gefürchtet. Wie hätte sie hineingehen können, da sie so befleckt von Sünde war?«
»Hmpf«, erwiderte Mutter. »Marie-Angélique, bewahre dir deine Rührseligkeit für würdigere Gegenstände. Ah, sehe ich dort nicht die Comtesse d'Armagnac ankommen? Gehe etwas langsamer, Marie-Angélique, damit wir sie grüßen können, wenn sie vorbeikommt.«
Ein Novize ging uns in der langgestreckten Salle St. Thomas voraus und beantwortete Fragen, wenn wir an jedem der mit Vorhängen versehenen Betten stehenblieben, um den Leidenden Beistand zu leisten. Am Ende des Saales war schon Madame la Présidente Le Bailleul in schlichter Gewandung und großer Schürze zu sehen. Das enorme Kruzifix an ihrem Hals baumelte bedenklich nahe über dem Becken, in dem sie Verbände auswusch.
»Mein lieber Bruder Étienne, in Nummer achtzig sind heute nur vier Männer. Was ist aus dem lieben alten Herrn mit der Fistel geworden, dem ich vorige Woche die köstliche Pastete gebracht habe?« Mutters Stimme war leise und süßlich fromm.
»Bedauerlicherweise, Madame, ist er trotz größter wissenschaftlicher Sorgfalt während der Operation gestorben.«
Interessant, dachte ich. Vier Söhne, fünfzehn Enkelkinder und eine Ehefrau. Eine große Zahl Gebete.
»Ich vermisse den geduldigen Leidenden in Nummer sechsundachtzig, Monsieur Duclos hieß er, nicht wahr? Dem meine Küchlein so gut mundeten. Und schaut, ich habe ihm seine Lieblingsküchlein mitgebracht –« Mutters frömmelnder Ton ließ nur eine kleine Spur Enttäuschung erkennen.
»Bedauerlicherweise, Madame Pasquier, hatten seine Leiden bald nach Eurem letzten Besuch ein Ende.« Duclos. Kein einziger Verwandter auf der Welt. Deswegen war er hier. Er hatte nur so lange ausgehalten wie der andere mit den vielen Gebeten, und er hatte nicht einmal Wundärzte, die ihm in die nächste Welt halfen.
»Ah, möge sein Ende friedlich gewesen sein.« Der Novize schüttelte den Kopf. »Krämpfe, Madame. Die Wundärzte haben ihn ein dutzendmal geschröpft, aber es war zu spät, es hat ihm nicht mehr geholfen.« Ich sah Mutter kurz mit dem Kopf nicken, die Lippen geschürzt, als habe sie soeben bei einem schwierigen Händler günstig Strümpfe erstanden. Dann sprach sie mit ihrer sanften, süßen Stimme und sah den Novizen unter flatternden Wimpern an.
»Ich werde ihn vermissen, er hatte einen wunderbaren Humor, sogar im Leiden.« Mutter betupfte sich die Augen mit ihrem Taschentuch und ging weiter, die zweite Bettenreihe entlang, spendete Kuchen, aufmunternde Worte und hier und da ein Gebet. Ich prägte mir alles ein. Tage des Siechtums, geschätzte Anzahl der Gebete. Bislang war Beten der Verlierer. Es könnte sich freilich ein Problem ergeben, falls Beten sich als wirksam erwiese, da ich selbst die Ausübung der Frömmigkeit recht lasch gehandhabt hatte. Aber, sagte ich mir, eigentlich brauchte ich mich nicht zu sorgen. Marie-Angélique verrichtete jederzeit genug Gebete für mich und ein halbes Dutzend Leute mit. Vielleicht gab es ein Problem mit meinen Berechnungen. War es richtig, eine große Familie in jedem Falle gleich zu werten? Angenommen, die Angehörigen waren dem Leidenden nicht zugetan, sondern warteten munter auf die Erbschaft, beteten vielleicht gar darum? Ich mußte dieses Problem in mein Notizbuch schreiben, um es später zu beurteilen.
Neue Formel: Multipliziere die Anzahl der Familienmitglieder mit der Anzahl der Gebete auf einer angenommenen Innigkeitsskala von eins bis fünf, (Eins für Pro-forma-Gebete, fünf für ernste Gebete, die von Herzen kommen.) Subtrahiere von dieser Zahl die geschätzte Größe der Erbschaft auf einer angenommenen Skala bis drei, wobei drei die größte ist. Vergleichsberechnungen entsprechend revidieren.
Es gab sehr vieles zu behalten, und so blieb mein Geist rege, insbesondere seit Marie-Angélique meine Gedanken unterbrach, wenn sie unter den Besucherinnen eine besonders elegante Dame erspähte. Da die meisten Leute zum Sterben ins Hôtel-Dieu eingelassen werden, ist die eigentliche Frage, wie lange es dauert, und ich mußte mir jeden Einzelfall für mein Büchlein merken. Nun hatte ich einmal einen Tutor, der sein System von Gedächtnishilfen an mir ausprobierte. Er klassifizierte alle Gedanken aufgrund einer Tabelle von dreihundert mythischen Tieren, komplett mit Bildern, was das Ganze nach seinem Dafürhalten sehr erleichterte. Aber ich habe ihn leider
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