Die Hexe von Paris
Phaedras Erwiderung beendet«, half die Herzogin nach. Mit zaudernder Stimme setzte Pradon die Lesung seiner Verse fort. Sie waren wohl ordentlich gereimt, doch irgendwie mittelmäßig; elegant, aber ohne Substanz und Kraft. Und das Stück handelte – wie merkwürdig – von genau demselben Thema, über welches Racine bekanntermaßen sein lange erwartetes Meisterwerk verfaßte.
»Pradon, es ist einmalig. Ihr müßt morgen in meinem Salon lesen, auf daß ganz Paris Euer Talent bejubele. Nun gesteht, ich hatte recht, als ich Euch dieses Thema vorschlug. Ich weiß Pradons Meisterschaft besser zu beurteilen als Pradon selbst.« Pradon verneigte sich tief, voller Demut.
»Madame verfügt über eine übermenschliche Wahrnehmungsgabe. Sie kann in die Seele blicken.«
Madames Coiffeur hatte unterdessen die Zofe abgelöst. Mit der Brennschere, die einen sengenden Geruch verbreitete, kreierte er eine symmetrische Anordnung von Locken, welche er mit diamantbesetzten Kämmchen voneinander trennte. Die Bittsteller traten nun vor, aber Madame, die es im Spiegel sah, gebot ihnen mit einer Handbewegung Einhalt.
»Zuvor«, sagte sie, »will ich mir wahrsagen lassen. Madame de Morville, ich bedarf Eurer berühmten Kunst. Jemand hat mich erzürnt; eine Frau, die sich einbildet, mir eine Rivalin sein zu können. Ich wünsche zu wissen, wer ihr Liebhaber ist.« Sie wandte den Blick nicht vom Spiegel.
»Madame, ein wahres Bild steigt nur aus dem Wasser empor, wenn die Person, deren Schicksal bestimmt werden soll, ihre Hände auf das Glas legt. Ich möchte Eure Gönnerschaft nicht aufgrund falscher Vorspiegelungen gewinnen.« Die Herzogin lachte – ein helles, kaltes, klirrendes Lachen.
»Nanu, wie ungewöhnlich! Madame, Ihr erhebt Euch doch gewiß nicht über den Rest der Menschheit! Sagt mir, könntet Ihr es mit einem Gegenstand probieren, welcher der Person gehört?«
»Ich könnte es versuchen, Madame«, sagte ich mit melancholischer Stimme. Sie zog eine Schublade ihres Toilettentisches auf und entnahm ihr den Handschuh eines Mannes. Dann wandte sie sich mir zu. »Ich wurde von dem Manne gekränkt, der diesen Handschuh trug. Sagt mir, was Ihr im Glase seht.« Während sie sprach, nahm eine Hofdame den Handschuh von ihr entgegen, um ihn mir zu reichen, und zwei Lakaien brachten einen niedrigen Schemel und ein Tischchen für meine Utensilien. Sie verlangte keinen Wandschirm und befahl nicht, daß sich alle entfernten. Sie will, daß alle Anwesenden die Geschichte weitertragen, dachte ich. Das ist ihre Art, jemandem eine Warnung zukommen zu lassen.
Ich legte Andrés Handschuh über die schmale Öffnung meiner runden Glasvase. Ich sang. Ich nahm den Handschuh fort. Er war noch nach seiner Hand geformt. Er trug seinen Geruch. Es verlangte mich, ihn in mein Mieder zu stopfen und an meinen Busen zu drücken, doch ich verzog keine Miene und legte den Handschuh neben das Glas, als sei er ein toter Frosch.
Ein Bild entstand. Wasser, graugrün. Darüber ein endloser Horizont, grau und kalt. Ein Gesicht. Mit Schrecken erkannte ich es. Das erste Bild, das ich vor Jahren in La Voisins schwarzem Salon gesehen hatte. Die Frau, die an der Reling des Schiffes auf die See hinausblickte. Es verschlug mir die Sprache. Dieses Mal erkannte ich das Gesicht der Fremden. Es war mein eigenes. Etwas schien anders, aber was, konnte ich nicht sagen. Die Frau raffte ihren Umhang um sich, und der Wind blies in ihr Haar. War es die Farbe, die anders war? Einst war mir der Umhang in einem hellen Blaugrau erschienen, jetzt war er dunkelgrau. Aus rauhem, dickem Stoff, und zu groß für sie. Ich sah genau hin, konnte aber nichts erkennen, das mir half, das Bild zu deuten. Was ging hier vor? Träumte ich, oder wandelte sich das Schicksal unmittelbar vor meinen Augen?
»Nun? Was seht Ihr?« Die Stimme der Herzogin unterbrach meine Gedanken. Ich sah auf. Alle Anwesenden warteten stumm und atemlos auf die Lesung.
»Madame, ich sehe eine Anzahl Höflinge und Hofdamen Madame de Montespans Gemächer in Versailles verlassen. Unter ihnen eine schöne junge Frau, klein, mit dunklen Haaren. Sie tändelt mit mehreren Herren. Der Besitzer des Handschuhs nähert sich ihr, sowie sich die Menge zerstreut, er stellt sich vor ihre Kammerfrau, um der Dame ein gefaltetes Blatt Papier zu übergeben. Sie lacht, nimmt ihren Fächer aus ihrem Mieder und schlägt ihm auf die Hand, um ihm ihr Mißfallen über seine Unverschämtheit kundzutun. Aber sie behält das Blatt
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