Die Hexe von Paris
abend vor dem Schlafengehen genommen?«
»Fast nichts, siehst du?« Ich nahm die Flasche von der Nachtkonsole und hielt sie in die Höhe. »Ich versuche, es einzuschränken.«
»Ihr habt es schon öfter eingeschränkt und werdet immer wieder rückfällig. Es tut Euch nicht gut, das sehe ich.«
»Sylvie, du nimmst dir zuviel heraus.«
»Madame, was kümmert's mich? Hört auf mich – die Zeiten sind schwer, und gute Stellen sind rar. Es würde mir nichts nützen, einer Leiche zu dienen.«
»Diesmal ist es nicht das Labsal – sieh noch einmal hinaus.«
Der Klang meiner Stimme bewog sie, mir eindringlich ins Gesicht zu sehen, bevor sie erneut ans Fenster trat.
»Ich sehe die erste Kutsche auf der Straße – Eure Kundschaft. Kleidet Euch geschwind an.«
»Schon recht, Sylvie, aber –«
»Keine Bange, Madame, ich lasse keinen Mann ohne Gesicht herein.«
An diesem Vormittag gab es ungewöhnlich viel zu tun: Ich prophezeite das Schicksal eines Sohnes an der Front, eines Geliebten zur See, riet zu einem Verlöbnis und empfahl einem Artillerieoffizier, sich wegen einer Salbe, die ihn gegen Kugelwunden unempfindlich machen sollte, an La Voisin zu wenden. Am späten Nachmittag ließ das Geschäft nach. Mustafa hatte mir ein Exemplar von »Le Mercure galant« gebracht, aus dem er mir zu meinem Vergnügen vorlas.
»Hört Euch das an, Madame, die Mode wechselt wieder: Bänder müssen von der Kleidung entfernt werden, und die Mode für Herren empfiehlt, ›kostbarere Stoffe, Eleganz in der coiffure, den Schuhen, der Leibwäsche und der Weste‹. Mein Kostüm dagegen ist von zeitloser Eleganz, nicht wahr? Der wahrhaft elegante Mann ist über die Mode erhaben«, erklärte er, indes er die aufgebogenen Spitzen seiner bestickten türkischen Pantoffeln betrachtete.
»Dasselbe ließe sich auch von mir sagen«, meinte ich lachend. Mustafa reichte mir die Zeitung und schwebte zur Türe, um einen neuen Klienten einzulassen. Nur sein Hüsteln gemahnte mich, die Zeitung beiseite zu legen; denn der Klient wartete schon, und als ich aufsah, gewahrte ich einen entlassenen Soldaten, der, mit dem Rücken zu mir, meine Möbel in Augenschein nahm. Er trug einen breiten Hut und hielt in einer Hand einen schweren Spazierstock. Mit der anderen strich er mit einer besitzerischen Geste, die mir mißfiel, über die silberne Vase auf dem Buffet. Ich setzte mich aufrecht und zog den Schleier meiner Morgenhaube hinab, so daß mein Antlitz wieder geheimnisvoll verborgen war. Alles hatte seine Richtigkeit: das Wasserglas, das auf seinem silbernen Ständer schimmerte, die Rührstäbe, das kabbalistische Tuch. Mustafa blickte unbehaglich drein.
»Monsieur«, sagte ich, »in welcher Angelegenheit kann ich Euch helfen?«
Der Mann drehte sich um und durchmaß das Zimmer mit arrogantem Gehabe. Er starrte auf die Ringe an meiner rechten Hand, nahm unaufgefordert mir gegenüber Platz und lehnte seinen Spazierstock an meinen Tisch. Ich fuhr erschrocken zurück. Es war nicht die falsche Nase, die er trug, oder der Pestgestank seiner abgefressenen Nase und Ohren. Nein, ich hatte den Mann ohne Gesicht erkannt.
»Ich bin gekommen, um mich nach einer vermißten Verwandten zu erkundigen«, sagte er in anmaßendem Ton. Ja, es war auch seine Stimme. Die Stimme aus meinen Alpträumen. Chevalier de Saint-Laurent. Onkel.
»Ich kann die Vergangenheit nicht sehen. Nur die Zukunft. Ich werde keine Gebühr erheben, wenn ich keine Lesung über die vermißte Verwandte zustande bringe.« Meine Stimme war ruhig. Ich bin kein Kind mehr, Oheim, ich bin stark. Und sosehr ich diese Begegnung fürchtete, ich habe sie herbeigesehnt, um Euch zu sagen, was Ihr seid.
»Oh, ich denke, es wird gelingen, sie zu finden. Lüfte den Schleier, Geneviève Pasquier.«
»So, Oheim, endlich begegnen wir uns wieder. Welches Übermaß an verwandtschaftlicher Liebe führt Euch hierher? Wünscht Ihr, daß ich Euch Eure Zukunft lese?« Ich hob den Schleier und sah ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, in sein abscheuliches Gesicht. Sein Atem stockte. Die Veränderung, welche Kunstfertigkeit, Geld und Liebe meinem Antlitz hatten angedeihen lassen, war unübersehbar. Ich wußte jetzt, daß ich schön war. Nicht golden-weiß und naiv wie Marie-Angélique, sondern dunkel, mächtig und weise.
»Du hast dich verändert«, sagte er, als er seine Fassung wiedergefunden hatte. »Du bist kein häßliches Mädchen mehr.«
»Geneviève Pasquier ist tot. Eure Vertraulichkeit behagt mir nicht. Bringt Euer
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