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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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fühlte Vater sich soweit genesen, daß er aufsitzen konnte. Mit einem Morgenrock und einer bestickten persischen Kappe angetan, saß er auf Kissen gestützt in seinem Lieblingslehnstuhl und las Tacitus. Die Familie verschwor sich, Großmutter nichts zu sagen, denn sie schien uns in letzter Zeit etwas gebrechlicher, und wir wollten sie nicht unnötig beunruhigen.
    Mutter war überaus besorgt. Sie bereitete mit eigener Hand eine besondere Brühe, aber Vater war bald zu schwach, um sein Bett zu verlassen. Um ihn aufzuheitern und seine Genesung voranzutreiben, las ich ihm täglich viele Stunden vor. Zuweilen glaubte ich, daß er gar nicht zuhörte, doch dann wandte er den Kopf und sagte: »Tochter, deine Anwesenheit ist mir eine Stütze und ein Trost. Beginne noch einmal mit dem zehnten Kapitel; sage mir, wie definiert Aristoteles das wahre Glück?«
    »Vater, er sagt uns, das wahre Glück finden wir in der Betrachtung, wohingegen an den Höfen der Tyrannen die allgemeine Vorstellung vom Glück als amüsantes Pläsier hochgehalten wird.«
    »Tochter, du lernst flink; lies weiter.« So fuhr ich denn fort, aus der Nichomachischen Ethik zu lesen, die von der Begründung des Glücks in tugendhaften Taten handelte. Er nickte beifällig, wann immer ich an einen Passus kam, den er besonders liebte, und lächelte sein ironisches Lächeln, wenn ich las, daß Sklaven körperliche Freuden genießen konnten, aber nicht glücklich zu nennen waren. In jenen Tagen wußte ich nicht ganz, was gemeint war, doch heute, da ich älter bin, weiß ich nur zu gut, wie klar seine Weltsicht war.
    Ich ging nicht mehr aus, um Botengänge für Mutter zu verrichten. Sie verlangte es gar nicht. Sie war zu sehr mit Vaters Pflege beschäftigt. Sie wusch eigenhändig seine Bettlaken und Nachthemden und auch sein Verbandszeug, als die Wunden auf seiner Haut aufgingen. Der Wundarzt kam wieder, dieses Mal mit einem Gehilfen, und runzelte die Stirn, als er das neueste Symptom sah. »Die italienische Krankheit«, murmelte er und führte Mutter in eine Ecke, um ihr zu eröffnen, daß Vater sie sich in einem Bordell geholt haben müsse. Sie flüsterte nur mit ihrer frommen Stimme, daß sie dies nicht anfechte, sie wünsche lediglich, sich Vaters vollständiger Genesung zu widmen. »Madame Pasquier, Ihr seid eine Heilige«, erklärte der Wundarzt, und er verabreichte Vater Quecksilber, das ihn noch kränker machte.
    Mutter trug jetzt nur düstere Farben unter ihrer Schürze, und sie legte ihr gesamtes Geschmeide ab, bis auf ein Kruzifix aus Silber und Onyx. Sie empfing fromme Witwen, die ihre Hand ergriffen, und diverse Priester, die ihr sagten, sie sei das Musterbeispiel einer ergebenen Gattin. Als ein Abbé – ich glaube, es war Monsieur Lamet – ihre Hand drückte und dabei leise sagte: »Wie bedauerlich, daß Euer Gemahl sein Vermögen ins Ausland gebracht hat, indes seine ergebene Gemahlin sich sehnt, mit frommen Werken seine Seele zu retten«, da sah Mutter rasch in meine Ecke hinüber, wo ich las, aber ich stellte mich, als hätte ich nichts gehört.
    Onkel war jetzt selten zu Hause. Er lief leidenschaftlich einer albernen Marquise hinterher, die ihm etliche kostspielige Geschenke gemacht hatte, darunter eine Schnupftabaksdose mit ihrem eingelegten Porträt und eine beträchtliche Summe Geldes, um seine Spielschulden zu begleichen. Wenn er erschien, besprach er sich leise mit Mutter, und wann immer er meiner ansichtig wurde, kniff er seine Fuchsaugen dergestalt zusammen, daß sein Gesicht einen durch und durch unfreundlichen Ausdruck annahm.

    »So, ma petite, was geht da draußen vor? Mein Sohn müßte unterdessen auf dem Wege der Besserung sein.« Großmutter schien in den letzten Wochen merklich geschrumpft, wie ein Apfel, der allmählich vertrocknet. Der Herbstregen schlug ans Fenster ihrer Kammer, und die geschlossenen Vorhänge rochen muffig, obwohl ein Feuer entfacht war, um die Kälte fernzuhalten. Sie legte ihre Bibel auf das Bett. Sie hatte in der Offenbarung gelesen.
    »Großmutter, es geht ihm keineswegs besser, obgleich Mutter seine Pflege übernommen hat und alles für ihn tut. Der Wundarzt hat ihm vorige Woche ein Dutzend Klistiere verabreicht und nur schwarzes klebriges Zeug hervorgebracht. Nicht einmal die Römer vermögen ihn mehr so aufzuheitern wie früher.«
    »Sie persönlich? Die Hure von Babylon pflegt meinen Sohn? Kann der Leopard seine Flecken wechseln, oder der Neger seine Haut? Erzähle mir, worin diese Pflege

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