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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Wünsche zu erfüllen. Du siehst also, dich trifft keine Schuld. Großmutter wäre ohnehin gestorben. Du darfst dich nicht grämen, es macht Großmutter im Himmel traurig.«
    Sie zog ihr Schnupftuch aus dem Ärmel und trocknete mein Gesicht. Sie sah bekümmert drein. »Überdies«, setzte sie hinzu, »mußt du an Vater denken. Du mußt für ihn heiter sein, damit er gesund wird. Du kannst mit ihm über all die Dinge reden, die er liest. Dann wird es ihm bessergehen.«
    »Besser? Aber – aber angenommen, Marie-Angélique, es geht ihm nicht besser?«
    »Oh, das darf nicht sein. Es darf einfach nicht sein.« Marie-Angélique sah blaß und verstört aus. Sie hatte Ringe unter den Augen. »Ohne Vater habe ich nicht die geringsten Aussichten. Es ist nichts geblieben, für keine von uns. Man wird uns die Möbel fortnehmen, das Haus – was wird aus uns? Tantchen kann uns nicht zu sich nehmen, Onkel würde gar nicht daran denken, und Vaters Angehörige sind tot. Étienne hat seine Ausbildung noch nicht beendet. Aber Vater kann uns retten, Geneviève, wenn es ihm erst bessergeht. Heitere ihn auf, Geneviève, mache ihn gesund.« Ihre Stimme sank zu dem verschwörerischen Flüstern, das alle Leute annehmen, wenn sie von Kranken sprechen. »Wir haben beschlossen, ihm nichts von Großmutter zu erzählen, bis es ihm bessergeht und er es verkraften kann.«
    Alles, alles wurde mir aufgehalst. Aber ich konnte Marie-Angélique nicht erzählen, daß ich die unheimliche gelbbraune Farbe in Vaters Antlitz hatte kriechen sehen und jeden Tag, wenn ich bei ihm saß und ihm vorlas, nach dem tödlichen Grau Ausschau hielt. Das war der Nachteil, daß ich im Hôtel-Dieu auf die Kranken geschaut hatte, statt auf die Kleidung der eleganten Besucherinnen. Eine Frage für mein Notizbuch an diesem Abend:

    Ist Wahrheit immer gut? Eine Methode entwickeln, um die vorübergehende, von wohlmeinender Falschheit geschenkte Freude gegen die Erschütterung durch schlechte Botschaft, auf die man spärlich vorbereitet ist, abzuwägen.

    »O schau, Geneviève, der lächerliche junge Mann steht wieder drüben auf der Straße. Und er hat einen Freund mitgebracht. Es schickt sich wirklich nicht für Männer, ein Haus so kurz nach einem Begräbnis zu begaffen. Und überdies kleidet Schwarz mich nicht.« In den Tagen nach Großmutters Begräbnis bemühte sich Marie-Angélique, die Schwere, die auf dem Haus lastete, zu erleichtern, indem sie sich von mir »Célinte« vorlesen ließ, während sie ihre Kleider durch Applizieren von Borten und gerafften Bändern schmückte. Und um ihre Augen nicht zu überanstrengen, wie sie sagte, hatte sie die Vorhänge in ihrem Zimmer weit aufgezogen, um das schwache Spätherbstlicht einzulassen. In Wahrheit aber haßte sie die Düsternis, das Kommen und Gehen von Trauernden, die verdunkelten Zimmer und gedämpften Stimmen. Und manchmal, obwohl ich mich schäme, es zu sagen, waren der Geruch von Krankheit und die Wolken düsteren Kummers und Trauerns in Vaters Krankenstube mehr, als ich ertragen konnte. Wir waren beide jung und suchten die Freude wie Motten das Licht.
    »Meine Güte, was für wunderbare Gefühle drückt Mademoiselle de Scudéry in dieser Passage aus. Wie herrlich, so zu lieben«, seufzte Marie-Angélique.
    »Es überrascht mich nicht, daß es dir gefällt – denn es hat dir ebenso gefallen, als sie dieselbe Passage in ›Clélie‹ verwendete, wenn ich mich nicht irre. Mich dünkt, sie erspart sich die Mühe, hier etwas Neues zu schreiben.«
    »O Schwester, du irrst dich gewiß. Die Charaktere sind vollkommen verschieden.«
    »Das schon«, erwiderte ich und fuhr fort, ihr das lange Gespräch in Cléonimes palastartiger Villa vorzulesen. Darin befindet die Gesellschaft, daß das Laster, Briefe anderer Leute heimlich zu öffnen, unweigerlich dazu führe, mit Karten zu betrügen, um schließlich in dem verderbten Wunsch zu enden, die Zukunft zu kennen.
    »Mademoiselle de Scudéry ist sehr überheblich.« Marie-Angélique sah verärgert drein. »Schließlich ist es nur natürlich, die Zukunft kennen zu wollen. Und ich betrüge nie mit Karten. Warum sie wohl da draußen stehen? Sieh hinaus, Schwester, aber laß es sie nicht merken – oh, du bist sehr unachtsam.«
    Ich hatte meine Stelle im Buch markiert und dann geradewegs aus dem Fenster geschaut. Der Himmel, schwer und dunkel von Regenwolken, schien die schmalen Häuserfronten auf der Straße gegenüber zu berühren. Dort stand, in einen langen Mantel gehüllt,

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