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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Großmutter, nicht sterben – o bitte, stirb nicht. Ich bin es, Geneviève. Du kannst nicht, du darfst nicht sterben!« Ich spürte, wie Großmutters Körper eiskalt und schlaff wurde, als ich sie umarmte. Ihr Mund ging auf, sie verdrehte die Augen.
    »Welch rührende Szene«, sagte Onkel mit einer Stimme, die so kalt war wie Eis.
    »Ruft den Priester, wir müssen die notwendigen Vorkehrungen treffen.« Mutters Stimme war hart und entschlossen. »Und was dich angeht, Mademoiselle, glaube nicht, daß Tränen deine Schuld verdecken können.« Sie ließen mich allein in der dunklen Kammer, die nach Tod roch, und ich hielt Großmutters Leichnam umklammert, der in den Staat vergangener Zeiten gehüllt war.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort allein blieb und in Großmutters eiskalten Busen weinte, ohne etwas zu hören außer dem Regen, der an die Fenster prasselte. Dann setzte ich mich auf, nahm die kalte Hand und starrte in das versteinerte Gesicht, als wollte ich es mir für immer einprägen. Im Tode waren ihre Züge entspannter, milder geworden, und die Ähnlichkeit mit meinem Vater trat wieder deutlich zutage. Die breite, hohe Stirn, die weißen, im Ansatz spitz zulaufenden Haare unter dem Spitzenhäubchen. Die feine Adlernase, der meinen nicht unähnlich. Das schmale, aber energische Kinn. Ich hörte ein leises »krk, krk« vom Betthimmel und blickte hoch. Der Papagei, triumphierend, weil er nicht eingefangen worden war, hangelte sich mit den Klauen am Baldachin entlang. Ich sah auf Großmutters Hand hinab. Als sie erschlaffte, schob sich ein zerknülltes Stück Papier in meine. Ich nahm es und strich es glatt. Der Brief, den sie geschrieben hatte. Er war zerrissen, ein Stückchen war in ihrer Hand geblieben. Ich drehte den Schnipsel um. Ein Name stand darauf – ein fremder Name, »Monsieur de la Reynie«. Weiter nichts. Aber wo war der Rest des Briefes? Ich suchte rund um ihren Stuhl, wo er hätte hingefallen sein können. Ihr leeres Glas, aus dem sie Likör zu trinken pflegte, rollte an einen vergoldeten Klauenfuß, aber da war kein Brief. Ich stellte das Glas auf die Nachtkonsole, neben die kleine Kristallkaraffe. Hätte ich ihr nur nicht aufgeholfen. Meine Schuld, meine ganz allein. Sie war zu schwach, um aufzustehen. Ich würde alles darum geben, das blaue Antlitz wieder rosig zu sehen, gegen die Kissen gelehnt, die schwarzen Augen glitzernd, während sie aus der Offenbarung las und verkündete, daß am Ende der Welt mit allen Sünden abgerechnet werde. »Wie steht es um das Ende meiner Welt, Großmutter?« fragte ich den schwarz gekleideten Leichnam auf dem Bett.
    An der Türe war Mutter mit dem Priester und den Männern, die gekommen waren, um den Leichnam aufzubahren.
    »Du bist noch hier?« sagte Mutter mit ihrer kalten Stimme. »Du solltest dich schämen.« Ich stürzte weinend hinaus.
    Als ich Großmutters Kammer verließ, sah ich, daß man meinen Bruder für Großmutters Begräbnis vom Collège herbeigerufen hatte. Er war klein und gedrungen, die selbstgefällig geblähten Wangen und die kalten Fischaugen ließen schon an einen Magistraten denken. Er besaß weder Mutters Schönheit noch Vaters ironisches, kluges Gesicht. Seine glatten, braunen Haare reichten bis zum Kragen seines Studentenrockes. Er hatte kaum einen Gruß für mich übrig, seine Miene war hart. Mutter mußte ihn bereits ins Bild gesetzt haben. Er hatte gehört, daß alles meine Schuld war; ich konnte es in seinen Augen lesen. Da stand er, steif und aufgeblasen, der künftige Erbe des Hauses Pasquier, und verdammte mich mit seinem Blick. Ein angehender Advokat. Vielleicht, wenn ihm in Großmutters Letztem Willen genug zufiel, der Erwerber eines kleinen Amtes – der erste Schritt auf der Leiter. Eine stille kleine Ehefrau mit großer Mitgift. Das Palais Pasquier in einem gediegeneren Stil neu eingerichtet. Ich sah alles vor mir. Er würde kein Narr, kein Spekulant, kein Verlierer sein wie Vater.
    »Geneviève, ich weiß, daß es nicht wirklich deine Schuld war.« Marie-Angélique umarmte mich. »Es kümmert mich nicht, was Mutter sagt.« Sie schob mich an eines der mit Brokat drapierten Fenster in Mutters Empfangssalon. »Du darfst nicht so weinen. Großmutter war alt, und sie war plötzlich wirr im Kopf, deswegen wollte sie aufstehen. Ich habe die anderen reden hören. Weißt du, sie war so seltsam, auch wenn du es nie bemerkt hast. Du bist zu jung, um zu wissen, daß es ihr schaden konnte. Und überdies war es deine Pflicht, ihre

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