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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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über den an der Porte St. Denis gelegenen modischen kleinen Etablissements der Coiffeusen und Blumenmädchen, seufzte Maître Alphonse Lemaire den Seufzer eines Elefanten, als er sich auf die Bank am Ende des großen, blanken Raumes setzte. Seinen Stock hatte er resigniert neben sich gelehnt. Schmierige alte Spitzen, zweifellos aus zweiter Hand erworben, umgaben sein Doppelkinn und seine plumpen Hände. Erschlaffte Bänder baumelten triste an seinen Rockärmeln und bauschigen Beinkleidern. Noch bevor er sprach, sah ich ihm an, daß er an mir verzweifelte.
    »Barmherziger Gott, womit habe ich, Alphonse Lemaire, das verdient? Verwandelt sie, Maestro, sagt sie – nun, meine Liebe, geht noch einmal durch den Raum. Das starke künstlerische Empfinden von Alphonse Lemaire muß den Kern des Problems erfassen. Also noch einmal. Gehen.« Und er gestikulierte mit der geistesabwesenden Eleganz des Ballettmeisters. Im Gehen konnte ich ihn murmeln hören: »Hoffnungslos, hoffnungslos. Und ich, einst Maître de Ballet in den Häusern von Grafen und Herzögen, bin so weit erniedrigt –« Plötzlich erhob er sich aufgeregt von der Bank.
    »Aha! Das ist es!« Er wirbelte auf seinen hohen, rothackigen Schuhen durch den Raum. Trotz seiner Leibesfülle und der enormen, mottenzerfressenen blonden Perücke, die wie eine alte Decke um seine Schultern lag, bewegte er sich mit behender Anmut. Wenn seine Hände zur Ruhe kamen, dann nur in einer kunstvoll ersonnenen Pose. »Nicht der Rücken, sondern die Beine. Setzt Euch auf die Bank, meine Liebe, und streckt die Füße. Ja, ja, so. Ganz fest. Seht her – der Fuß ist verformt und verdreht, aber das ist nicht das Problem. Nein, ganz eindeutig ist ein Bein, das linke, kürzer als das andere, und zwar erheblich. O ja, ich bin ein Genie. Habe ich Euch schon gesagt, daß ich ein Genie bin?«
    »In der letzten halben Stunde nicht.«
    »In der letzten halben – ah! Mademoiselle hat Witz. Aber Witz ist nicht genug. Nicht dasselbe wie Genie. Da geht Ihr jahrelang auf dem Bein und habt nie gemerkt, daß es verkürzt ist.«
    »Ich habe es sehr wohl gemerkt.« Mir war jämmerlich zumute. Es behagt mir nicht, wenn man mir beim Gehen zusieht.
    »Nun wohl – aber habt Ihr denn nicht erkannt, daß, wenn das Fundament eines Turmes schief ist, der ganze Turm schief sein muß? Das Rückgrat ist ein Turm, Mademoiselle. Kleine Knochen, wie Bauklötze aufeinandergetürmt.« Er gestikulierte mit einer Hand, als sei er ein Kind, das einen Turm aus Holzklötzen baut.
    »Nun«, sagte er und zeigte anmutig auf seinen hochhackigen Schuh, »ich werde einen aufgebauten Schuh kreieren, ganz ähnlich dem, mit welchem ich die Anmut der jüngsten Tochter des Comte wiederhergestellt habe, nachdem ihr Bein infolge einer langen Krankheit zusammengeschrumpft war. ›Monsieur le Comte‹, habe ich zu ihm gesagt, während Eure Tochter zugegebenermaßen am Hofe Gegenstand des Neides ist, dieweil sie sich die fürnehmste aller Krankheiten zuzog, welche den jungen Duc du Maine höchstselbst befallen hat, wäre es dennoch nicht ratsam, ein junges unschuldiges Mädchen zur Kur zu schicken, angesichts der Gesellschaft, welche dort anzutreffen ist. Ich empfehle diesen Schuh, um sie vollkommen wiederherzustellen^ ›Lemaire, Ihr seid ein Genie!‹ erwiderte er. Hätte ich nur davon Abstand genommen, auch die Comtesse wiederherzustellen, so wäre ich nicht dermaßen erniedrigt – ah, aber wir müssen aus allem das Beste machen.« Er seufzte schwer und ließ sich wieder auf der Bank nieder.
    »Zumindest kann ich ihr garantieren, daß Ihr nicht zu erkennen sein werdet. Schließlich, wenn ein Mädchen dermaßen verwachsen ist wie Ihr, wer nimmt dann noch etwas anderes wahr?« Ich blickte ihn finster an.
    »Glaubt nicht, es wäre ein Vergnügen für mich, scharfzüngiges kleines Ding. Hätte sie nicht meine Gattin so vorzüglich etabliert, gar nicht zu reden davon, daß sie meine Entlassung aus dem Gefängnis bewirkte, ich würde auf der Straße nicht meinen Hut vor Euch ziehen. Und nun – über die Hintertreppe hinaus!« Er klatschte gebieterisch in seine schmutzigen Hände. »Ich habe im Marais zu unterrichten, und sie hat eigens befohlen, daß Ihr hier nicht gesehen werden dürft.«
    Am Fuße der langen Außentreppe öffnete eine Gehilfin der Bouquetière die Hintertüre des Ladens, und ich trat in eine geschäftige Werkstatt, die erfüllt war von schwerem Parfümduft. Hier wurden künstliche Blumen aus Bändern und Seide

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