Die Hexe von Paris
Musselinhüllen ganze Reihen von Kleidern hingen. Sie hob einen der Schutzbezüge an und zeigte mir ein Seidenkleid in aurore mit hellgrünen Paspeln. Aus einem anderen quoll eine Anzahl schwerer Taftunterröcke in leuchtenden Farben hervor.
»Oh, schön«, seufzte ich. Ich sah ihren abwägenden Blick. Sie machte mir Appetit auf das illustre Leben.
»Unser Berufsstand ist an allen Höfen auf Erden willkommen – vorausgesetzt, wir sind nicht ungehobelt wie die vulgäre La Bosse. Achte auf deine Manieren und denke an meine Lektionen, und du wirst ein Dutzend Kleider wie dieses haben.«
»Und das da? Das Rotsamtene?« Ich wies auf einen Zipfel einer schweren, mit doppelköpfigen goldenen Adlern bestickten Robe, die unter einer Musselinhülle hervorschaute.
»Niemals«, sagte sie und zog die Hülle sorgsam zurecht. Ich erhaschte einen Blick auf meergrüne Spitze, bevor das Kleid verschwand. »Das ist die Robe einer Herrscherin. So eine könntest du nur haben, wenn du Königin würdest.« Sie neigte den Kopf und sah mich erneut mit ihren schwarzen Augen an. »Was hast du doch für berechnende graue Augen, meine Liebe. Du hast gewiß den Verstand, um Königin zu werden – und den haben die wenigsten –, aber es mangelt dir an Charakterstärke. Ich glaube, ich muß diese Nacht nicht aufbleiben und mich sorgen, wie? Bislang hast du noch keine einzige jener Eigenschaften bewiesen, die für die Einweihung in unsere Mysterien erforderlich sind.« Sie schloß die Schranktüre und drehte den Schlüssel mit einem Klicken herum. »Mach nicht so ein beleidigtes Gesicht. Was wahr ist, ist wahr. Daß du mich niemals in diesem Kleid die Sibyllen anrufen sehen wirst, muß nicht heißen, daß du keine Zukunft hast. Tatsächlich, meine liebe Kleine, zeitigst du bereits glänzende Erfolge.« Sie faßte mich liebevoll unters Kinn, wie man es bei Kindern tut. »Komm, komm. Du hast nun mal nicht das Zeug zu einer Hexe. Das ist keine Schande. Viele meiner, äh, Geschäftsteilhaberinnen eignen sich nicht dafür.«
Ich dachte an die Stoiker. Ich dachte an Descartes. Ich dachte, wie weit ich mich von der Rue des Marmousets entfernt hatte. Und jetzt war ich beleidigt, weil man mir sagte, ich sei nicht verrückt genug für eine richtige Hexenmeisterin. Vergebt mir, Vater. Die Welt steht auf dem Kopf, seit Ihr sie verlassen habt.
Ein Klopfen an der Türe des Schlafgemachs unterbrach meine Gedanken.
»Madame, das Mädchen, nach dem Ihr schicktet, wartet unten, und Euer Gemahl ist mit dem Päckchen zurück.«
»Gut, Margot. Wie viele hat Samson ihm gegeben?«
»Vier diesmal, Madame. Werdet Ihr sie hier trocknen, wie gewöhnlich?«
»Natürlich. Bringe das Päckchen.« Sie wandte sich mir mit einem kühlen Blick zu, als ob sie mich taxierte. »Ich habe keine Geheimnisse vor der kleinen Marquise hier«, sagte sie schelmisch. »Die Kohlen im Ofen sind weit genug heruntergebrannt.« Also hatte ich recht gehabt, als ich eine ungewöhnliche Wärme hinter der Tapisserie an der Wand des Schlafgemachs zu bemerken meinte.
Als Margot gegangen war, wandte sich La Voisin an mich. »Ich habe eine reizende kleine Zofe für dich gefunden. Sie kennt sich sehr gut bei Hofe aus. Sie kann dich über die Leute, denen du begegnest, ins Bild setzen und verhindern, daß du dich in eine peinliche Lage bringst. Angenommen, zum Beispiel, du klopfst an eine Türe, statt zu kratzen – du würdest die Schande nicht überstehen. Aber sie kann dir sagen, an welche Türen du klopfen und an welchen du kratzen mußt – wann du einem Besucher eine Türe halb und wann du sie ihm ganz öffnen mußt. Es kommt auf die Priorität an. Priorität und Hofetikette. Es ist wichtig, daß du nichts falsch machst. O ja. Und du solltest dir den Nagel am kleinen Finger deiner linken Hand lang wachsen lassen; der gesamte Hofstaat tut es, um an Türen zu kratzen.« Mit selbstzufriedener Miene fuhr sie fort: »Es war ein großes Glück für mich, sie zu bekommen – sie war im Haushalt von La Grande Mademoiselle, bis sie die Aufmerksamkeit des falschen Mannes erregte. Ein paar Wochen in der Salpêtrière bewogen sie, ihr Leben zu bereuen und nach mir zu schicken. Und ich habe in der Güte meines Herzens ihre Entlassung veranlaßt und ermögliche ihr ein neues Leben.«
Interessant. Für so ein Mädchen gab es nur eine Möglichkeit, dem Kerker zu entkommen, nämlich lebenslang in die Kolonien verbracht zu werden. Also reichte La Voisins Einfluß bis in die Gefängnisse und »Spitäler«
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