Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
fort. Am Nachmittag machte ich in den eleganteren Bezirken Hausbesuche. Bei Frauen, denen nicht gestattet war, das Haus zu verlassen, Frauen, die fürchteten, bei einer Wahrsagerin gesehen zu werden, Frauen, die krank waren oder verrückt. Aber reich.
    Mein letzter Besuch an diesem Tag galt einer neuen Klientin. Sie wohnte in einem kleinen Juwel von einem Stadthaus in dem eleganten, am Weg nach Versailles gelegenen Vorstadtbezirk in der Rue Vaugirard. Eine Zofe empfing mich auf der Straße und führte mich auf einem rückwärtigen Pfad ins Haus. Meine Erscheinung rief ein leichtes Zittern bei ihr hervor: Eine winzige alte Dame in Schwarz, verschleiert, auf einen schweren Stock gestützt – ich hatte mich so sehr an dieses Aussehen gewöhnt, daß ich vergessen hatte, welch furchterregenden Eindruck ich auf neue Klientinnen machte. Wieder so ein Haus, in dem ein eifersüchtiger Mann seiner Gemahlin den Empfang von Gästen nicht gestattet, dachte ich. Ich folgte der Zofe die Treppe hinauf in ein hohes, luftiges Schlafgemach, weiß und golden getäfelt, mit einem erlesen gearbeiteten Marmorkamin, kostbaren Tapisserien und prächtigen Teppichen. Auf dem ausladenden Bett mit karmesinroten Draperien saß mit dem Rücken zu mir eine Frau in einem exquisiten Neglige. Ihr goldblondes Haar hatte sie hoch aufgetürmt. Auf einem Ständer vor einem Fenster knackte ein Papagei emsig Körner. Er sah genauso aus wie Großmutters Papagei.
    »Ach!« rief der Papagei. »Hölle und Verdammnis! Feuer und Schwefel!« Er hörte sich genauso an wie Großmutters Papagei.
    »Sei still, du gräßliches Ding!« sagte die Frau und wandte sich mir mit rotgeränderten Augen zu. Es war Marie-Angélique.
    »Oh, endlich seid Ihr gekommen. Ihr, die Ihr so vielen die Zukunft vorausgesagt, die Ihr so vielen die Zukunft gerettet habt. Rettet die meine, Madame; denn ich bin die unglücklichste Frau auf der Welt.«
    Stumm stellte ich meinen Beutel neben ihren Toilettentisch und hob meinen Schleier. Sie sah mich lange an. »Ich kenne Euch«, sagte sie mit verwirrter Miene. »Mein Gott, Ihr seht genauso aus wie meine verstorbene Schwester. Aber sie war krumm, und Ihr seid gerade.«
    »Schnüre dieses teuflische Korsett auf, und ich bin gewiß wieder krumm, Marie-Angélique.«
    »Du lebst! O Geneviève, wie habe ich um dich geweint – und dich beneidet –« Sie erhob sich, mich zu umarmen, dann zögerte sie. »Du hassest mich nicht, nein? Du wirst mich Schwester nennen?«
    »Dich hassen? Warum? Du bist alles, was mir von diesem ganzen jämmerlichen Wirrwarr geblieben ist, Marie-Angélique.«
    Wir weinten und fielen uns in die Arme, dann rief sie: »Was für ein gräßliches Korsett! In einem Stück von der Hüfte bis zum Hals, Eisenstangen im Rücken! Wer hat das nur ersonnen?«
    »Die Leute, die mich aufgenommen haben, Marie-Angélique. Sie haben mich neu erschaffen. Und sogar meine eigene Schwester hatte ihre Zweifel, nicht wahr?« fragte ich hoffnungsvoll.
    »O ja, du siehst verändert aus – irgendwie – würdevoll. Und auch hübsch, auf eigentümliche Weise. Ich hätte nie gedacht, daß du so aussehen könntest. Aber sich vorzustellen, daß du hundertfünfzig Jahre alt bist! Ich bin darauf hereingefallen, wie ganz Paris! Du bist die große Mode. Man gilt etwas, wenn man sich von dir wahrsagen läßt, genauso, wie man die richtige Schneiderin oder Stickerin beschäftigen muß.«
    »Ich habe hart dafür gearbeitet – du darfst mich nicht verraten. Versprichst du es mir, Marie-Angélique?«
    »Ö Geneviève«, sagte sie und begann zu lachen. »Wie oft habe ich dir schon aus der Verlegenheit geholfen? Und dies ist wieder so ein Streich von dir – o nein, ich werde dich nicht verraten, das verspreche ich dir.« Sie legte beide Hände auf meine Schultern, hielt mich auf Armeslänge, um mich eingehend zu mustern, und lachte, weil ich so komisch aussah. Dann aber wurde sie ernst und fragte: »Du bist nicht zu Hause gewesen? Du hast nichts gehört?«
    »Ich war nicht zu Hause, seit ich an jenem Morgen hinausgeworfen wurde.«
    »Hinausgeworfen? Sie sagten, du seist fortgelaufen. Dann fand die Polizei die Leiche eines Mädchens im Fluß und stellte sie im Keller des Châtelet zur Schau. Sie hatte dunkle Haare wie du, aber der Leichnam war schon verwest, und man konnte nicht erkennen, wer es war. Ertrunken, sagten sie und fragten, ob du vielleicht schwanger warst und dir das Leben genommen hättest. Mutter sagte, sie habe immer gewußt, daß du in

Weitere Kostenlose Bücher