Die Hexe
Attribute wie eine Glatze, Kurzsichtigkeit und ein Hämorrhoidalleiden ersten Grades.
Doch selbst als gestandener Professor war Lew Moisejewitsch noch lange nicht zufrieden und der graue Alltag des satten Universitätsbetriebes ödete ihn an. Serebrjanz dürstete nach Ruhm! Er wollte nicht als mittelmäßiger Wissenschaftler enden, sondern als Vordenker und Pionier in die Geschichte eingehen. Sein Porträt sollte die Lehrbücher zukünftiger Generationen schmücken und das nach Möglichkeit nicht nur in Russland …
Ende der achtziger Jahre setzte Lew Moisejewitsch alles auf eine Karte. Zu jener Zeit hatte er die ersten Anhaltspunkte für die Existenz der Verborgenen Stadt zusammengetragen und verkündete dem überraschten wissenschaftlichen Publikum, es gäbe uralte Zivilisationen von Humanoiden, deren Nachkommen sich in Moskau eingenistet hätten. Leider konnte der Professor seine kühnen Theorien nicht mit stichhaltigen Beweisen untermauern und seine missgünstigen Kollegen – ebenso kurzsichtige und hämorrhoidengeplagte, aber weniger ehrgeizige Sesselfurzer wie er – zögerten nicht, sich diesen Umstand zunutze zu machen, und warfen die Frage auf, ob der Professor noch ganz richtig im Kopf sei. Serebrjanz blieb nichts anderes übrig, als die Universität zu verlassen und sich mit privaten Vorlesungen und Seminaren über Wasser zu halten. Dabei geriet er mehr und mehr in Vergessenheit.
Doch nun war all das Vergangenheit: der Spott, die Erniedrigung, die chronische Geldnot. Seine Ehefrau, die ihm vor sechs Jahren davongelaufen war, hatte bereits viermal bei ihm angerufen, doch Lew Moisejewitsch dachte überhaupt nicht daran, den Kontakt zu ihr wiederaufzunehmen. Sie gehörte zu einer düsteren Vergangenheit, während ihm eine großartige Zukunft bevorstand.
»Endlich«, flüsterte Serebrjanz. »Endlich Krieg!«
Der Krieg gegen die Humanoiden verhieß Anerkennung und Ruhm. Sicher, den Großteil der Lorbeeren würde Kara ernten und der Professor sah weder eine realistische Möglichkeit noch hätte er den Mut gehabt, ihr die Führungsrolle streitig zu machen. Doch ein Teil des Glanzes dieser erstaunlichen Frau würde gewiss auch auf ihn herabfallen und ihm endlich jenen Respekt einbringen, den er sich seiner Meinung nach schon immer verdient hatte.
Artefakthandlung Burchans Schatztruhe
Moskau, Ostoshenka-Straße
Mittwoch, 27. September, 18:47 Uhr
»Hat jeder von euch kapiert, was zu tun ist?«
Nur zu gern hätte Zorro die jungen Kerle mit einem Kraftausdruck belegt, um zu dokumentieren, wie er ihre geistigen Fähigkeiten einschätzte, doch er ließ sich nicht dazu hinreißen. Dass die in einer Seitenstraße versammelten Skinheads nur auf den ersten Blick ein gefügiger Haufen waren, wusste der Bandit nur zu gut. In Wirklichkeit verbarg sich unter ihren kahlrasierten Schädeln eine explosive Mischung aus blindwütiger Aggression, kindlicher Grausamkeit und maßlos übersteigertem Ehrgefühl. Es wäre deshalb ausgesprochen leichtsinnig gewesen, die jugendlichen Hitzköpfe zu reizen.
»Wir haben alles verstanden«, bestätigte der Anführer des Haufens, ein hoch aufgeschossener und für sein Alter außergewöhnlich breitschultriger Kerl, der eine schwarze Bomberjacke trug. »Aber vorher wollen wir unser Geld.«
»Die Hälfte kriegt ihr im Voraus, den Rest hinterher.«
»Und wo finde ich dich hinterher?«
»Cool bleiben, Junge«, brummte Zorro. »Ich melde mich selbst bei dir. Ihr habt jede Menge Arbeit vor euch.«
Das Glöckchen an der Eingangstür bimmelte leise und kündete vom Eintreffen eines Kunden. Der schwarzhaarige junge Mann, der hinter dem Ladentisch saß und friedlich in einem Buch las, blickte auf und erhob sich eilfertig.
»Frau Wald! Guten Tag! Wie schön, Sie bei bester Gesundheit zu sehen!«
Die korpulente rothaarige Frau im schwarzen Mantel lächelte.
»Guten Abend, Yussur. Wo ist denn dein Großvater?«
»Großvater Burchan fühlt sich heute nicht wohl«, verkündete der Jüngling und breitete entschuldigend die Arme aus. »Deshalb vertrete ich ihn heute im Geschäft. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Kannst du das überhaupt schon?«, fragte die Frau neckisch. »Mein Mann, der Ritter Wald, sagt immer, dass man sehr achtgeben muss, wem man sich in wichtigen Dingen anvertraut.«
»Großvater hätte mich nie zum Stellvertreter gemacht, wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass ich das kann«, erwiderte Yussur gekränkt.
»Ich habe doch nur Spaß gemacht«,
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