Die Hexen - Roman
teilzunehmen.«
Ravenna spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Elinor verhöhnt die Sieben, dachte sie. Ihre Aufmachung und ihr Erscheinen bei der Grablegung ist eine einzige Herausforderung.
Dann wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Mavelle sprach ein Wort der magischen Sprache und, aus Rauch geformt, erschien Marlons Gesicht über der Bahre. Traurig blickte er seine Gefährten an. »Geh jetzt, mein Freund«, sagte die Elfe weich. »Irgendwann kommt ein anderer Tag und dann sehen wir uns wieder. Jetzt musst du Abschied nehmen.«
Eine weitere Handbewegung, und der Rauch zerstob. Marlons Mutter schluchzte, als Lucian und seine Freunde die Bahre anhoben und ans Ufer des unterirdischen Sees trugen, der den größten Teil der Höhle erfüllte. Sie legten den Toten in ein Boot und entzündeten eine kleine Laterne am Bug. Ein Stoß und das Boot begann über den stillen See zu treiben.
Ravenna starrte dem Licht nach, bis es so klein wie eine Streichholzflamme war. Ihre Augen brannten.
Nach der Trauerfeier versammelten sich die Gäste auf dem Turnierplatz am Fluss. Nebelstreifen waberten über den Auen, die Luft war kühl und roch nach Sommer. Über dem festlichen Kleid trug Ravenna den langen, grauen Hexenmantel. Die Kapuze verhüllte ihr Gesicht und das geflochtene Haar, als sie zusammen mit den anderen Magierinnen und deren Gefährten den erhöhten Platz unter dem Baldachin der Ehrentribüne aufsuchte. Alles war mit Bändern und frischen Birkenzweigen geschmückt. König Constantin unterhielt sich mit dem Bischof und den Mitgliedern des Stadtrats und bewirtete seine Gäste mit Wein und süßem Kirschkuchen. Die Schülerinnen des Konvents, die Handwerker und Bauern aus den umliegenden Dörfern und die Besucher aus der Stadt drängten sich beiderseits des Turnierplatzes auf roh gezimmerten Sitzbänken hinter der Absperrung. Nur den Hain am oberen Ende des Turnierplatzes betrat niemand.
Obwohl Ravenna den Kopf gesenkt hielt, spürte sie, wie sie von allen Anwesenden angestarrt wurde. Lynette, diese Schlange, hatte sicher überall herumerzählt, dass sie einer Beschwörung der Sieben gefolgt und durch ein magisches Tor gekommen war. Sogar in Hörweite machte sie sich darüber lustig, dass sich Ravennas Erfahrung als Magierin auf den gewaltigen Zeitraum von drei Tagen beschränkte.
»Ärgerlich, aber nicht zu ändern«, meinte Josce mit einem Achselzucken. Die groß gewachsene Jägerin reichte Ravenna die Hand und half ihr, über die hechelnde und dösende Hundemeute zu steigen. »Natürlich hätten wir den Außenstehenden gerne weisgemacht, dass du seit langem als Melisendes Nachfolgerin ausersehen bist. Nun ist es anders gekommen. Du wirst deiner Aufgabe trotzdem gerecht werden.«
Behaglich steckte die Jägerin die Beine aus, wobei sie einen ihrer Hunde aufscheuchte, der sich daraufhin schüttelte und sich dann dicht an Ravennas Beinen einen neuen Schlafplatz suchte. Als sie den Becher hob, um sich von Chandler einschenken zu lassen, kroch der Feuersalamander aus ihrem Ärmel. Ravenna erschrak. Blitzschnell schlang das Tier den Schwanz um Josces Handgelenk. »Keine Angst«, lachte die Jägerin jedoch, »und starr ihn nicht so an. Schließlich kann er nichts für die Boshaftigkeit seiner früheren Besitzerin. Lurche lösen nur dann unvorhergesehene Brände aus, wenn man sie mit einem Bann belegt. Ich wünschte nur, es wäre ebenso leicht, Elinor den Giftstachel zu ziehen.« Missmutig starrte die Jägerin zu dem Platz auf der gegenüberliegenden Tribüne hinüber, auf dem die Marquise mit ihrem Gefolge saß. Das schwarze Banner des Hœnkungsberg wehte über ihr. Mit Silberfäden war ein Skorpion in das Tuch gestickt. Aufmerksam beobachtete Elinor das Geschehen auf dem Turnierfeld, während Lynette hinter ihr stand und ihr Erfrischungen reichte.
»Was meinst du zu diesen Auftritt, mein Freund?«, murmelte Josce. »Gewiss freust du dich, deine alte Herrin wiederzusehen, aber du wirst ganz sicher nicht zu ihr zurückkehren.« Der Salamander antwortete ihr mit einem Fiepen. Es klang tatsächlich, als unterhielten die beiden sich in einer geheimnisvollen Sprache.
»Starr mich nicht so an, Ravenna.« Die Jägerin lächelte, als sie Ravennas Stirnrunzeln bemerkte. »Als Herrin der Wälder verstehe ich viele Wesen – nicht nur die Menschen. Deshalb konnte ich auch dir helfen.«
»Mir?«, wunderte Ravenna sich. Dann fiel ihr die Berührung an der Schläfe ein, mit der Josce im Hexensaal ihren Sinn für
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