Die Hexen - Roman
Der Geschmack von Stahl in ihrem Mund. Der einzige Ausweg war ein bleigraues Rechteck im Dach, ein unerreichbares Fenster. Und die Erinnerung an Angst … Angst!
»Männer können grausam sein, nicht wahr?«, stieß Elinor mit einem langen Atemzug hervor. »Glaub mir, ich kann ein Lied davon singen. Und wenn du einmal einen guten, treuen Freund gefunden hast, dann bleibt er dir nicht lange erhalten.«
Mit einem Ruck riss Ravenna den Kopf zurück und unterbrach den Sog. Erneut wollte sie sich befreien, doch mit unerwarteter Kraft umklammerte die Marquise ihre Handgelenke.
»Schöne Maikönigin, nimm auch meinen Segen: Wisse, dass du diesen Überfall niemals vergessen wirst. Die Erinnerung an jene Nacht wird dich dein Leben lang begleiten. Wenn du schlau und mutig bist, wirst du aus dieser Begegnung Kraft gewinnen. Wenn nicht, wird sie dich zerstören.«
Zwei oder drei Herzschläge lang ruhten Elinors Fingerspitzen auf Ravennas Stirn. Das nächste Geräusch, das in ihr Bewusstsein drang, war das Jaulen des unterlegenen Hundes. Josce schimpfte und trennte die Raufbolde mit sicherem Griff. Der Baron und der Bischof lachten. Sie unterhielten sich, während der König Marvin am Arm packte und einige Schritte zur Seite zog, um endlich den Rest der Botschaft zu hören. Erregt sprach der rothaarige Ritter auf Constantin ein.
Ravenna blinzelte. Hatte sie eben geträumt? Hatte Elinor wirklich vor ihr gestanden und ihr gedroht oder hatte sie einfach nur zu lange in der Sonne gesessen? Mit zitternden Fingern betastete sie den Kranz, aber sie spürte nichts Ungewöhnliches. Da waren keine Skopione mit Giftstacheln und auch keine schwarzen Malven. Wie vorhin lehnte Elinor am Waldrand im Schatten an einer Birke und trug die Drehleier an einem Riemen über der Schulter. Das Instrument steckte in der Hülle aus Fell und weichem Leder. Die Marquise schien sich keine Handbreit bewegt zu haben. Und dennoch … unbehaglich rieb sich Ravenna über die Stirn.
»Ist alles in Ordnung? Geht es Euch gut?« Lucians Faust spannte sich noch immer um den Schwertgriff. An dieses Bild erinnerte Ravenna sich sehr deutlich. Ihr Puls schnellte in die Höhe.
»Ich weiß nicht … ich glaube nicht. Ist dir eben etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Unbehaglich zuckte Lucian die Schultern. Die kummervolle Miene, die er am Maistein gezeigt hatte, war verschwunden. Er wirkte wachsam und konzentriert. »Ich dachte, eine Wolke wäre vor die Sonne gezogen. Und mir ist nicht ganz wohl, wahrscheinlich durch den Aufprall und den Blutverlust.«
Aufgeregt packte Ravenna ihn am Handgelenk. »O nein, nein, das war etwas ganz anderes. Elinor hat ihre schwarze Zauberkunst gewirkt. Und sie hat mir etwas mitgeteilt, das die Sieben unbedingt erfahren müssen. Komm mit!«
Sie zog Lucian zu den Hexen, aber als sie ihr Erlebnis schilderte und den Maikranz herumzeigte, erntete sie Stirnrunzeln und Kopfschütteln.
»Wie? Elinor hat dich mit der Perle berührt? Zeig her!« Aufmerksam betrachtete Nevere ihre Stirn. »Nein, da ist nichts«, befand die Heilerin dann.
»Aber es tut weh«, murrte Ravenna. »Und sie hat irgendwas von einem Segen gefaselt. Für mich klang es eher wie ein Fluch.« Wisse, dass du niemals vergessen wirst. Ihr war schwindlig und ihre Stirn fühlte sich an, als hätte man ihr einen glühenden Stempel aufgedrückt.
Lucian beobachtete sie besorgt. »Ich glaube ihr«, sagte er.
Diese einfachen Worte berührten Ravenna, sie wurde ganz verlegen. Wann war es das letzte Mal geschehen, dass jemand ohne Zögern zu ihr gehalten hatte, jemand, den sie erst vor wenigen Tagen kennengelernt hatte?
»Ihre Gabe ist Elinors Macht ähnlich«, fuhr Lucian fort. »Sie sind beide Tormagierinnen. Falls die Hexe vom Hœnkungsberg diesen Ort soeben tatsächlich manipuliert hat, ist Ravenna möglicherweise mit ihr in diesen Zeitspalt getreten.«
Ein Spalt in der Zeit – genauso hatte sich die gruselige Erfahrung angefühlt. Als hätte Elinor die Wirklichkeit ein kleines Stück zur Seite gekippt.
Ravenna schüttelte sich. »Melisende soll sterben«, sagte sie. »Und zwar noch heute Nacht. Wir müssen sofort in die Stadt reiten.«
Ihre Worte riefen unter den Hexen große Bestürzung hervor. »Das geht nicht«, stieß Aveline hervor. »Um Straßburg zu betreten, brauchen wir die Zustimmung des Hohen Rats. Die Stadt ist unabhängig von den Burgen und untersteht weder dem König noch irgendeinem anderen Fürsten. Hexen haben dort nicht ohne weiteres Zutritt.«
»Das
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