Die Hexen - Roman
legte sie auf.
Was mache ich jetzt bloß mit Merles Jungen?, dachte sie. Nachdenklich stützte sie den Kopf auf den Arm und beobachtete die Kleinen, die sich im Flur balgten. Immer wieder kam eines der Kätzchen zu ihr gelaufen, maunzte und rieb den Kopf an ihrem Bein.
Seufzend wählte sie die Nummern ihrer anderen Freundinnen. Marie ließ sich schließlich breitschlagen und versprach, in der nächsten halben Stunde vorbeizuschauen. Erleichtert stand Yvonne auf, bereitete den Katzenkorb vor und sammelte die Winzlinge ein.
»Och, die werden ja von Tag zu Tag süßer!«, rief Marie beim Anblick der Kleinen. Mit dem Fingernagel kraulte sie einem der schwarzen Zwerge den Bauch. »Wo ist denn Merle? Sie lässt ihre Jungen doch bestimmt nicht allein verreisen. Merle! Komm, meine Schöne! Miezmiezmiez …«
Yvonne trat ihr in den Weg, ehe sie noch die ganze Wohnung auf den Kopf stellte. »Sie ist nicht mehr da. Fort. Weggelaufen.«
Maries Augen weiteten sich. »Welche Katzenmama lässt denn ihre Babys im Stich? Merle hat sich doch so liebevoll um die Kleinen gekümmert. Und dich lässt das völlig kalt? Na los doch, wir müssen nach ihr suchen! Überall Zettel aufhängen, im Tierheim anrufen und …«
Yvonne packte den Oberarm ihrer Freundin mit einem Griff, von dem sie wusste, dass er mit Sicherheit wehtat. »Ich hab im Augenblick andere Sorgen. Nimmst du die Kleinen jetzt mit, oder was ist? In der Tüte da ist Milchersatz und ein Fläschchen. Die zwei Größeren fressen aber auch schon richtiges Futter.«
Marie wich in den Flur zurück und presste den Korb mit den Kätzchen an sich. »Was ist bloß los mit dir?«, stieß sie hervor. »Seit ein paar Tagen benimmst du dich so komisch! Wenn du bei dem Spiegelorakel etwas gesehen hast, dann sag es uns! Wir machen das alles doch nur, um dir und Ravenna zu helfen.«
»Ich habe nichts gesehen. Gar nichts.« Das war bereits die zweite Lüge an diesem Vormittag. Die dritte Schwindelei lautete, dass sie die Kätzchen wieder abholen würde, sobald das Wochenende vorüber war. Aber Marie würde die Wahrheit schon selbst herausfinden, wenn sie den Umschlag mit Geld und den Brief entdeckte, den Yvonne unter dem Polster im Körbchen versteckt hatte.
Als Marie gegangen war, schloss sie die Haustür. Eigentlich hatte sie gedacht, sie würde ein wenig wehmütig sein, aber als sie die verwaiste Wohnung betrachtete, fühlte sie sich erleichtert. Nun bestand für die Kleinen wenigstens keine Gefahr mehr.
Kalt also … ihre Freundinnen hielten sie für kaltblütig? Nun, sollten sie doch denken, was sie wollten. Sie hatte ohnehin nicht die Absicht, dieses magische Kaffeekränzchen noch länger fortzuführen. Oriana hatte ihr bewusstgemacht, wie echte Magie aussah, und sie wollte sich nicht länger mit sinnloser Stümperei aufhalten.
In Ravennas Zimmer waren die Fensterläden geschlossen. Über das breite, französische Bett, das unter der Dachschräge stand, hatte sie eine blaue Tagesdecke geworfen, auf der noch die Dellen zu sehen waren, die die herumtollenden Katzenjungen hinterlassen hatten. Vor dem Fenster stand ein Tontopf mit einer blühenden Hortensie.
Mit einem Ruck zog Yvonne die Decke glatt. Dann schaltete sie das Licht ein und suchte im Schrank nach dem gelben Blumenkleid, das ihre Schwester ihr versprochen hatte. Vor dem Spiegel drehte sie sich ein paarmal hin und her. Das Kleid passte, wie für sie gemacht. Sie zog ihre Jeansjacke über und schlüpfte in ein paar elegante Sandalen. Aus der Wohnung nahm sie nur eine Flasche Mineralwasser mit, denn sie wollte nicht lange wegbleiben.
Die Straße zum Odilienberg schlängelte sich durch eine Allee aus Nadelbäumen, Kastanien und nackten Felsen. Wegen des trüben Wetters waren nur wenige Besucher in der Anlage und Yvonne hatte den Gipfel nahezu für sich. Auf den Bänken im Innenhof hatte eine Pilgergruppe ihre Vesper ausgepackt und unterhielt sich lebhaft. Auf der vordersten Aussichtsterrasse lärmte eine Schulklasse. Die Jungen versuchten sich gegenseitig zu übertreffen, indem sie aus immer größerer Entfernung in das verwitterte Becken spuckten, das dort stand.
Yvonne nahm ein Geldstück aus ihrer Börse und steckte es in das Münzfernglas. Wie albern, dachte sie, während sie das Gerät zur nebligen Rheinebene hin schwenkte. Als könntest du deine Schwester durch ein Fernglas entdecken. Lange verfolgte sie ein Auto, das von Ottrott in Richtung Straßburg fuhr. Wie winzig die Häuser und Straßen von hier oben wirkten!
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