Die Hexen - Roman
bereits, dass sie ein Tor gefunden hatte. Ohne es zu ahnen, hat Ravenna mir ein Dutzend Hinweise gegeben, wohin sie gehen wollte. Mir war klar, dass sie irgendwann einen Weg finden würde. Ihr Hexen stammt doch immer aus denselben, alten Blutlinien.«
Yvonnes Finger zuckte. Im nächsten Augenblick versetzte sie Corbeau eine heftige Ohrfeige. »Sie haben es die ganze Zeit gewusst? Sie belügen die Polizei, die Presse, mich … sind Sie eigentlich noch bei Trost?«
Das Singen, das für eine Schrecksekunde verstummt war, setzte wieder ein. Nun klang es noch bedrohlicher als zuvor.
Corbeau hatte Yvonnes Handgelenk nicht losgelassen. Er wirkte nicht wütend, sondern merkwürdig traurig und konzentriert. Auf seiner Wange sah sie die Abdrücke ihrer Finger, und in seinen Augen spiegelte sich das Wetterleuchten.
»Was hätte ich Kommissar Gress sagen sollen? Dass deine Schwester im Mittelalter verschollen ist? Dass sie sich bei den Sieben verkrochen hat? Es wird ihr nichts nützen. Ich finde sie überall, denn es gibt immer noch dich …«
Yvonne fühlte, wie ihr ein Heft in die Hand gedrückt wurde. Als sie auf ihre Finger blickte, stockte ihr der Atem, denn sie hielt einen schmalen Silberdolch mit dreieckiger Klinge. Ein Hexenmesser. Griff und Klinge bestanden aus einem hellen, erstaunlich schweren Metall. Das Heft war mit einer Fülle magischer Zeichen bedeckt, die so tief in den Stahl getrieben waren, dass Yvonne die Rillen unter den Fingern fühlte. Die Klinge endete in einer scharfen Spitze.
Das ist jetzt ein böser Scherz, dachte sie. Sie wollte die Waffe fallen lassen, aber Corbeau presste ihre Faust zusammen, bis ihr die Knöchel schmerzten. »Jede Aufwallung dunkler Macht verlangt ein Opfer«, sagte er. »Das wusstest du doch schon, bevor du herkamst. Niemand hat dich gezwungen, an Bord dieses Schiffes zu kommen. Doch jetzt bist du hier.«
»Nein«, stieß Yvonne hervor. »Ich will das nicht! Ich kann das nicht.«
Das Mädchen auf der Ladeluke räkelte sich, als zwei der Anwesenden ein Muster aus flüssigem Pech um die verhüllte Gestalt gossen. Der scharfe Geruch nahm Yvonne fast den Atem. Mittlerweile war es Nacht. Nur das Zucken der Blitze erhellte die Szenerie.
Corbeau zwang Yvonne, näher an die Luke zu treten. Mit dem ganzen Körper schob er sie vor sich her und ließ ihr Handgelenk nicht los, obwohl sie sich sträubte. »Wehr dich nur, das macht die Sache leichter, für dich wie für mich«, keuchte er ihr ins Ohr. »Je mehr Gefühl im Spiel ist – Zorn, Wut, Hass oder Schmerz –, desto wirksamer ist die Magie. Ahnst du eigentlich, wie lange ich nach dir gesucht habe? Ich brauche jemanden wie dich, diesseits wie jenseits des Tors. Und jetzt lass uns anfangen!«
Er schnipste mit dem Finger. Die Frau auf der Ladeluke lüftete die Schleier. Zuerst kamen ihre Hände zum Vorschein, dann ein Kleid aus schwarzer Seide. Auf ihrer Brust lag eine Malvenblüte und sie bog den Kopf so weit zurück, dass sich die Kehle wie ein Bogen spannte. Als Yvonnes Blick auf das Gesicht der Liegenden fiel, schrie sie gellend auf.
Es war Oriana – die Frau aus dem Steineladen.
Melisendes Lied
Burg Landsberg im Jahr 1253
»Lucian!«
Ravenna fand ihren Ritter auf der Spitze des Burgfrieds. Sie war außer Atem, weil sie die Treppe, die sich zwischen dem fünfeckigen Außenwall und dem Kern aus Mauerwerk in die Höhe schraubte, im Laufschritt genommen hatte. Schießscharten ragten in die Wand und an der Fahnenstange, die auf einem Podest befestigt war, wehte Constantins Banner. Es zeigte ein Hexensiegel, in dessen Mitte sieben Sterne funkelten.
Lucian stand bei seinen Freunden und blickte sie mit gerunzelter Stirn an. Keiner der jungen Männer wirkte glücklich. Wie es den Anschein hatte, störte Ravenna die Gruppe soeben bei einer geheimen Besprechung. Warum sonst sollten sich die jungen Ritter an der höchsten Stelle der Burg einfinden, wo ein kalter Wind blies und Nebelschwaden um den Fahnenmast trieben? Unten in der Halle war es weitaus angenehmer, doch es gab Zuhörer, die das Gesagte möglicherweise weitertrugen, bis es die Ohren des Königs erreichte.
»Diese Beratungen dauern viel zu lange. Wir müssen endlich etwas unternehmen!«, stieß Ravenna hervor. »Ich werde nicht zulassen, dass man Melisende auf den Scheiterhaufen bringt.«
Sie hatte alles abgelegt, was ihr nicht gehörte: Esmees Gürtel, das grüne Festkleid und vor allem den Hexendolch, den eine Aura umgab, die ihr nicht gefiel. Nun trug sie
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