Die Hexen - Roman
Anwesenden dunkel gekleidet waren. In dem gelben Kleid war sie die einzige Ausnahme.
Corbeau breitete die Arme aus und winkte. »Die Lichter. Bitte.«
Yvonne musste in ihrer Handtasche suchen, ehe sie die schwarze Kerze fand. Damian beobachtete sie. Wie alle anderen trug auch er die Kerze in der Tasche seines Jacketts bei sich. Corbeau nahm ihr das Licht aus der Hand, kratzte das Wachsbildchen ab und ließ es achtlos auf das Deck fallen. Mit einem Lächeln gab er ihr die Kerze zurück.
»Was wir beide in meiner Praxis erlebt haben, war nur eine Vorstufe dessen, was wir heute Abend tun werden. Landläufig nennt man es zwar Hypnose oder Meditation, doch das wäre so, als würde man Guckloch nennen, was in Wirklichkeit ein Scheunentor ist. Mit der Kraft Ihrer Gedanken haben Sie dieses Tor aufgestoßen – ein Tor zu einer anderen Zeit.«
Yvonne schnappte nach Luft. Woher konnte er das wissen? Sie hatte doch kaum Andeutungen gemacht, was sie während der Trance erlebt hatte. Nicht einmal die Bisswunde, die ihr der Junge Remi beigebracht hatte, hatte sie ihm gezeigt. Mittlerweile hatte sich daraus ein sichelförmiger Bluterguss entwickelt.
»Den meisten meiner Gäste ist es bereits gelungen, dieses Tor zu öffnen, allerdings nur für kurze Zeit – gerade ausreichend, dass jemand hindurchschlüpfen konnte. Sie, Yvonne, sind die Einzige, die diesen Durchgang für volle drei Stunden offen gehalten hat. Sie müssen immense Kräfte besitzen.«
Sie schluckte. Ihr Mund wurde trocken, als sie an die Eindrücke aus dem Hexenturm erinnert wurde. Nein, Eindrücke war das falsche Wort, dachte sie dann: Es waren echte Erlebnisse gewesen.
Corbeaus Jünger standen nun alle an Deck. Yvonne zählte mehr als dreißig Personen, die sich um eine flache Ladeluke versammelt hatten. Die Luke war mit einem Schiebedach verschlossen. Eine schöne junge Frau ging im Kreis herum und zündete die Kerzen an. Mit der Hand schützten die Gäste die Flammen vor dem Fahrtwind, während die Frau jedem Anwesenden etwas ins Ohr flüsterte. Gespannt wartete Yvonne, bis sie an der Reihe war, aber die Frau sagte nur: »Träger des Lichts.« Dann ging sie weiter.
Corbeau war verschwunden. Die Runde wartete lautlos und geduldig, bis er wiederkehrte. Geschmeidig wie eine Katze bewegte er sich an Deck und trug nun wieder die bodenlange Robe, deren Stehkragen von eng nebeneinander liegenden Stoffknöpfen gehalten wurde. An der Hand führte der Doktor eine tief verschleierte Gestalt. Als er auf die Ladeluke wies, streckte sich die Verhüllte ohne Zögern auf dem Deckel aus.
Was wird das denn jetzt?, dachte Yvonne nervös. Das Licht hinter ihrer hohlen Hand zuckte und tanzte. Plötzlich merkte sie, dass sich das Schiff im offenen Gewässer bewegte, weit draußen auf dem Fluss.
Corbeau leitete die Versammlung. Als er beide Arme hob, streckten die Versammelten die Hand, in der sie keine Kerzen hielten, zum Himmel. Ihre Stimmen schwollen zornig murmelnd an. Spannung lag in der Luft, dann zuckten die ersten Blitze über den Himmel.
Nein, dachte Yvonne dann erschrocken: Das Wetterleuchten entsprang aus den Fingerspitzen der Anwesenden – und auch aus ihren eigenen Fingerkuppen, wie sie zu ihrem Entsetzen bemerkte. Sie wusste nicht, wann sie die Hand gehoben hatte und in das allgemeine Raunen eingefallen war. Es war, als gehorche ihr Körper einem fremden Willen.
Die Blitze formten Schlangenlinien und Bögen, kreuzten und verzweigten sich, bis ein Dom aus Funken über dem Schiff knisterte. Ein Schauer rann Yvonne über den Rücken, während sie die entstehenden Muster beobachtete, widerwillig und zugleich fasziniert von der Schönheit der Erscheinung. Je länger sie auf die Blitze starrte, desto mehr gewann sie den Eindruck, dass die Versammelten in eine Art Materie hineingriffen, die bereits da war – wie das Licht oder die Luft.
Sie zuckte zusammen, als Corbeau sie plötzlich am Handgelenk fasste und sie aus der Reihe der murmelnden Verschwörer löste.
»Ich will dir zeigen, wie schön und mächtig du bist!«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Viel mächtiger und möglicherweise auch wertvoller als deine Schwester.«
»Ravenna?« Yvonnes erhobener Arm fiel herab und ihre Lippen bebten. »Was hat das denn mit ihr zu tun? Wo ist sie?«, stieß sie hervor. »Wo ist meine Schwester?«
Corbeau lächelte dünn. »Immer noch auf der Suche? Nicht auf den Ort, sondern auf die Zeit kommt es an – weißt du noch, wie du das zu mir sagtest? Natürlich wusste ich da
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