Die Hexen - Roman
um für den nötigen Zusammenhalt zu sorgen. Wir arbeiten schon sehr lange an diesem Forschungsprojekt und haben immer wieder Rückschläge zu verkraften.«
»Und worum geht es bei diesem Projekt?«
Corbeau lächelte. »Nur Geduld, meine Liebe, das werden Sie noch früh genug erfahren.«
Als er die Glastür zum Aussichtsdeck aufschob, empfing sie eine gedämpfte Atmosphäre wie in einem eleganten Club. Corbeaus Studenten standen in Grüppchen beisammen und unterhielten sich, leise Barmusik tönte im Hintergrund und es gab Cocktails, Weißwein und feine Häppchen.
»Was war das?«, fragte Yvonne. Hastig griff sie nach einem verchromten Geländer. Ihr war plötzlich schwindlig.
»Wir haben abgelegt«, beruhigte Corbeau sie und reichte ihr einen Aperitif. »Genießen Sie einfach den Abend. Wir machen eine Rundfahrt durch die Stadt, plaudern ein wenig, bis alle ganz entspannt sind, und dann erkläre ich Ihnen, worum es geht. Haben Sie die Wetterkerze dabei?«
Yvonne nickte. Das Schiff drehte mitten auf dem Fluss. Nach und nach machte Corbeau sie mit den anderen Anwesenden bekannt. Manche waren eindeutig zu alt, um noch Studenten zu sein. Corbeau bezeichnete sie als Dozenten und wissenschaftliche Mitarbeiter und nannte Yvonne immer nur die Vornamen. Sie wunderte sich, dass er von allen mit höchster Ehrerbietung behandelt wurde, als sei er nicht nur Doktor – sondern eher so eine Art Übervater. Manche der Gäste verneigten sich sogar vor ihm. Albern, dachte Yvonne. Gerade angehenden Psychologen hätte sie mehr Distanz zugetraut.
Doch es fiel ihr selbst schwer, den Blick von Corvin Corbeau abzuwenden. Wie bei ihrer ersten Begegnung fühlte sie sich von ihm angezogen und abgestoßen zugleich. Ihr fielen die streitbaren Konturen um seine Nase und seinen Mund auf, die zornigen Augenbrauen, doch gleichzeitig besaß der Doktor das makelloseste Gesicht, das sie je gesehen hatte. Ein Gott, in Stein gemeißelt. So behandelten ihn die anderen Anwesenden auch.
Meine Liebe, er ist definitiv zu alt für dich, warnte sie sich kopfschüttelnd. Anfang vierzig oder noch älter und du bist gerade mal zweiundzwanzig. Finger weg von Ravennas Doktor!
Sie trank nur sehr wenig Alkohol, denn sie wollte nicht den gleichen Fehler begehen wie bei ihrer ersten Hypnose. Diesmal wollte sie einen klaren Kopf bewahren und alles bewusst erleben, vom Eintauchen in die Vision bis zum Erwachen.
Gemeinsam mit den anderen Gästen beobachtete sie, wie das Schiff durch den weit verzweigten Rheinhafen fuhr und dann vor dem Europaparlament eine Schleife drehte. Wie eine Burg aus spiegelndem Glas lag das Gebäude am Ufer der Ill. Anschließend glitt das Schiff durch die Kanäle Richtung Innenstadt. Von der Brücke aus beobachteten Spaziergänger, wie das Wasser in der Schleuse abgelassen wurde und das Boot auf ein anderes Niveau sank. Ein Mann machte Fotos und ein Mädchen zeigte mit dem Finger auf die Gesellschaft hinter den Panoramafenstern. Dann öffneten sich die Schleusentore und die abendliche Altstadt mit ihren schiefen Fachwerkhäusern und den mit Blumen geschmückten Fassaden zog vorbei.
»Da wohne ich! Dort oben!« Aufgeregt packte Yvonne den Mann neben sich am Ärmel und deutete auf die beiden Dachfenster unter dem Giebel. »Das ist unsere Wohnung!«
Der Angesprochene lächelte und tupfte sich das Handgelenk mit einer Serviette. Yvonne hatte seinen Weißwein verschüttet, aber es gelang ihr kaum, sich angemessen zu entschuldigen. Sie starrte auf das Haus mit dem dunklen Fachwerk und den roten Geranien.
Wie schön könnte das alles sein!, dachte sie. Wie schön wäre es, wenn Ravenna wieder hier wäre. Dann wäre alles gut. Ein ungewohntes Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihr breit.
»Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?« Der Mann, den sie angerempelt hatte, besaß eine angenehme Stimme. Er streckte die Hand aus. »Damian. Dozent der Humoralpathologie. Man hat uns noch nicht bekanntgemacht.« Er fasste ihre Hand mit unerwartet kräftigem Griff. Für einen Mitarbeiter an der Universität war er überraschend jung. Sein Gesicht war von schulterlangen Locken umrahmt und er besaß ein gewinnendes, strahlendes Lächeln. Corbeau versteht es, sich mit schönen Menschen zu umgeben, dachte Yvonne.
»Humoralpathologie? Die Lehre von den Körpersäften, die angeblich den Charakter einer Person prägen?« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Ich dachte, dieses Fachgebiet aus dem Mittelalter beschäftigt nur noch Historiker.«
Damian
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