Die Hexen - Roman
gesichert.«
»Was heißt elektronisch?«, fragte Lucian.
»Unsichtbar«, entgegnete Ravenna und ihr Ritter nickte verständnisvoll. »Ich kenne dieses Buch«, sagte er dann und deutete auf ein Ausstellungsstück, das in einem der beleuchteten Kästen ruhte. »Es wurde auf dem Odilienberg geschrieben und handelt vom Leben im Konvent. Hier … seht Ihr die Hexen, die in einem Kreis stehen?«
Ravennas Atem beschlug die Scheibe, als sie sich vorbeugte und die handgemalten Figuren betrachtete. In bunten Gewändern gekleidet bildeten sie einen Kreis. Jede Magierin hielt ein anderes Zeichen in der Hand: einen Kelch, ein Auge oder einen blühenden Apfelzweig. Eine der Hexen war ganz in Weiß gekleidet und führte zwei Hunde an der Leine, eine andere war eindeutig schwanger.
»Das sind Josce, Mavelle und die anderen«, lachte Ravenna. Sie hatte das Bild schon einmal gesehen: in Avelines Kräuterküche, wo es neben zahlreichen anderen Wandbildern hing. Sie war überrascht von der Sehnsucht, die sie plötzlich überfiel. Sie hatte Heimweh nach dem Berg der Hexen. »Schau dir das an, Yvonne! Schau sie dir an: Jede Frau trägt ein anderes Zeichen bei sich. Es steht für ihre magische Gabe. Das sind ganz eindeutig die Sieben.«
Mit zweifelnder Miene betrachtete ihre Schwester das aufgeschlagene Buch. »Aber es sind doch acht. Wer ist denn die Figur in der Mitte?«
»Das ist Morrigan, die Hexengöttin!« Ravenna lachte wieder. »Du stellst genau dieselben Fragen wie ich. Daran sieht man, dass wir Schwestern sind.«
Der Professor, der zwei Tische weiter eine Schriftrolle ausgebreitet hatte, schmunzelte. Mit den weiß umhüllten Fingerspitzen berührte er das Papyrus. »Er dort ist doch bestimmt ein Magier«, flüsterte Lucian, als er sah, wie andächtig der Professor mit der Schriftrolle umging. »Seht nur, er benutzt einen Kristall, um besser lesen zu können.«
Ravenna schüttelte den Kopf. »Es ist ein Gelehrter«, flüsterte sie zurück. »Und das Ding in seiner Hand nennt man Lupe. Es ist … na ja, du hast Recht. Es ist eine Art magischer Kristall.«
Yvonne kräuselte die Nase. »Wenn ihr mit Plaudern fertig seid … was ist denn mit dem Zeichen auf dem Siegel, nach dem ihr sucht? Sieht man das vielleicht auch auf dem Bild?«
Mit der flachen Hand schlug Ravenna sich vor die Stirn. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Aber natürlich … der Maler oder die Malerin hatte alle Zauberinnen dargestellt, die in dem Konvent unterrichteten. Sie suchte den Kreis der Sieben ab, bis sie auf eine Figur stieß, die in rosenfarbene Seide gekleidet war. Eine stolze Witwe. Eine unbesiegte Königin.
»Hier ist es«, sagte sie. Sie kniff die Augen zusammen, um das Detail besser sehen zu können. »Es ist eine Blume. Hm … aber welche Art? Ich erkenne schmale, spitze Blätter, die wie ein Kelch gebogen sind.«
»Was Sie da sehen, ist eine Lotosblüte.« Ravenna schrak zusammen, als sie dicht hinter sich eine Stimme hörte. Überrascht drehten sich die drei am Kasten zu dem Professor um. »Ein Zeichen für pure, magische Kraft. Es heißt, die Träger eines solchen Zeichens könnten den Strom sogar mit ihren Gedanken bewegen. Oder mit einem Lied.« Er reichte Ravenna die Lupe. »Schauen Sie ganz genau hin. Eine solche Blume sieht man selten.« Er zwinkerte der Gruppe zu und verschwand zwischen den Regalen. Von einem Augenblick auf den anderen war es, als hätte die Luft ihn aufgesogen.
»Ein Großmagier«, erklärte Lucian im Brustton der Überzeugung. »Habt Ihr gehört, wie er über den Strom sprach? Und ich darf mich ganz sicher nicht vor ihm verbeugen?«
»Nein«, erwiderte Ravenna. »Das darfst du nicht.«
Sie beugte sich wieder über den Schaukasten. Woher wusste dieser weißhaarige Gelehrte etwas über den magischen Fluss? Und wieso wurde sie das Gefühl nicht los, dass er nicht aus Zufall in den Lift gestiegen war, den sie und Lucian benutzten? Irgendetwas an dem Mann war seltsam.
Seufzend setzte sie die Lupe auf das Glas und blickte auf die Zeichnung. Es war ohne Zweifel Melisende abgebildet, die eine Lotosblume auf der flachen Hand trug. Die Blütenblätter sahen aus, als wären sie aus Feuer.
Eine Feuerblüte. Mit einem Ruck richtete Ravenna sich auf. Von solchen Dingen hatte sie geredet, als sie das erste Mal verschwunden war. Die Hexen hatten also schon damals nach ihr gerufen und eine Beschwörung abgehalten. Doch das Tor hatte sich nicht vollständig geöffnet.
Nachdenklich kratzte Yvonne sich am Kinn. »Eines
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