Die Hexen - Roman
Schlucht kletterte, in der unsere Burg stand, und mich in einer der vielen Höhlen verlief. Damals träumte ich von sagenhaften Drachenreitern und wäre gern einer von ihnen geworden. Velasco meinte aber nur, bevor das geschieht, würde ich mir den Hals brechen.«
»Velasco.« Plötzlich wurde Ravenna bewusst, dass Lucian zum ersten Mal von seiner Vergangenheit sprach. Sie blickte ihn an, doch sein Lächeln war fortgewischt. Der Lift hielt im ersten Stock und ein älterer Herr stieg zu. Er nickte den beiden anderen Fahrgästen zu. Wegen seines weißen Schnauzbarts betitelte ihn Ravenna in Gedanken sofort als den Professor.
»Wer war dein Vater eigentlich?«, fragte sie und drückte ungeduldig auf den Knopf, der die Türen schloss. Endlich fuhr der Lift weiter. »Von deiner Familie hast du mir noch nie etwas erzählt.«
»Ein andermal«, sagte Lucian abweisend. »Jetzt möchte ich nicht darüber sprechen.«
Ravenna betrachtete ihn. Sein bekümmertes Gesicht am Maistein fiel ihr ein und ihr wurde bewusst, dass es hinter ihrer gemeinsamen Geschichte noch eine weitere Geschichte gab, viele Geschichten, die sein Leben ausmachten. Es stimmt schon, was Lucian über die Liebe sagte, dachte sie. Man öffnet sein Herz einem völlig Fremden.
Ein heller Ton und eine Leuchtziffer informierten sie darüber, dass sie im obersten Stock angekommen waren. Höflich ließ Ravenna dem Professor den Vortritt. »Wir haben Zeit«, meinte sie und beobachtete, wie er zu dem Glaskasten trat, in dem ihre Schwester und eine andere Frau Dienst taten. Auch der ältere Herr musste seinen Bibliotheksausweis abgeben, ehe er die Handschriftenabteilung betreten durfte. Durch ein Schiebefach reichte Yvonne ihm weiße Stoffhandschuhe. Dann winkte sie. »Ravenna und ihr Ritter. Was für eine Überraschung!«
Ravenna beschloss, die Ironie in der Stimme ihrer Schwester zu überhören. »Hast du kurz Zeit für uns? Wir brauchen deine Hilfe.«
»Jetzt sofort?« Yvonne zog eine Augenbraue in die Höhe. Sie sah an diesem Nachmittag besonders hübsch aus. Neue Ohrringe, dachte Ravenna. Oder ein neuer Liebhaber. Beides wechselte ungefähr genauso schnell und brachte mit sich, dass Yvonne gute Laune hatte.
»Jetzt sofort«, beharrte sie. »Du musst uns helfen, etwas zu finden.«
Sie nahm Lucians Hand, zog den Ring ab und legte ihn in die Kunststoffschale, die unter Yvonnes Fenster hin- und hergeschoben wurde. »Wir suchen das Siegel des Sommers«, erklärte sie. »Es sieht vermutlich so ähnlich aus wie dieser Ring. Das echte Hexensiegel ist aber deutlich größer und in der Mitte der Windrose sitzt ein Motiv. Wir wüssten gerne, was es ist, damit wir das Siegel erkennen können .«
Mit einem Stirnrunzeln drehte Yvonne den Ring im Licht hin und her. Er funkelte. »Das Siegel des Sommers?«, murrte sie. »Nie gehört. Aus welcher Zeit stammt dieser Ring? Er sieht alt aus, wesentlich älter als 13. Jahrhundert.«
»Vielleicht findet sich etwas in alten Büchern oder Handschriften«, beharrte Ravenna, ohne auf die Frage ihrer Schwester einzugehen. »Oder im Katalog. Es muss doch irgendeinen Hinweis geben.« Yvonne seufzte. »Na schön. Hast du deinen Ausweis dabei?«
»Äh … nein. Der liegt noch auf dem Odilienberg. Wie meine Uhr und die Autoschlüssel.« Ravenna spürte, wie ihr nun schon zum dritten Mal Hitze ins Gesicht stieg. Seufzend buchte Yvonne ihren eigenen Ausweis ein.
»Übernimmst du hier?«, bat sie ihre Kollegin. »Du kannst dann gleich schließen, denn ich glaube, heute kommt niemand mehr.«
Die andere Frau verzog das Gesicht. »Ausgerechnet jetzt muss ein Gewitter aufziehen«, jammerte sie. »Ich habe keinen Schirm dabei. Auf dem Heimweg werde ich bestimmt pitschnass.« Sie hatte Recht: Mittlerweile regnete es in Strömen und vor den großen Fenstern zuckten Blitze.
»Ich mag, wenn es donnert«, erklärte Yvonne kühl. Sie legte den Ring zusammen mit den Handschuhen in die Plastikschale. »Dass ihr mir ja keine Bücher mit bloßen Händen durchblättert!«, warnte sie. »Der Schweiß auf der Haut würde das Papier angreifen.«
Sie ging voraus und führte Lucian und Ravenna durch die Handschriftenabteilung. Ravenna mochte den Geruch der alten Bücher, den Duft von Leim, vergilbtem Pergament und brüchigen Seiten. Manche Bände waren so empfindlich, dass sie in flachen, klimatisierten Glaskästen aufbewahrt wurden. »Diese Kästen solltet ihr besser nicht anfassen«, sagte Yvonne. »Sie sind durch ein elektronisches System
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