Die Hexen - Roman
dem Diebstahl zu tun haben könnte?«
Ravenna antwortete nicht. Lucian stand dicht neben ihr, und sie beugten sich über Yvonnes Schulter. »Es gibt nicht zufällig ein Bild von diesem Samiel?«, wollte Ravenna wissen. »Könntest du nach weiteren Mitgliedern dieser Familie suchen? Vielleicht taucht irgendwo ein Porträt auf.«
»Ich wüsste nicht, was daran so wichtig sein soll«, maulte Yvonne, aber sie ließ den Mauszeiger über den Bildschirm wandern. Aufmerksam beobachtete Lucian, wie sie die Hand bewegte. Plötzlich zuckte sie zusammen. »Hoppla!«, rief sie und wollte den Bildschirm umdrehen, so dass Ravenna und der Ritter einen Blick hineinwerfen konnten.
Diesmal traf der Blitz das Gebäude. Zeitgleich mit dem Einschlag geschahen mehrere Dinge: Das Licht flackerte und erlosch, bis auf den grünen Streifen der Notbeleuchtung. Irgendwo schlug eine Tür und plötzlich wehte ein kalter, nach Regen riechender Wind durch die Handschriftenabteilung. Die Geräusche von draußen klangen nun erschreckend laut: rollender Donner, Autoreifen auf regennasser Straße, Hupen und das Klingeln einer Straßenbahn. In der Ferne jaulte eine Sirene. Yvonne stand auf.
»Wo ist der Ausgang?«, fragte Lucian. Seine Stimme klang vollkommen ruhig, und sein Gesichtsausdruck erinnerte Ravenna an den dämmrigen Morgen vor dem Stadttor, als sie darauf warteten, dass Vernon die Wache bestach. Ihr Puls raste. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wann er sie an der Hand gefasst hatte, aber er hielt sie, als hinge ihr beider Leben davon ab. Immer wieder tastete seine Hand zum Gürtel, doch das Schwert hing nicht an seinem Platz.
»Yvonne, wo befindet sich der Ausgang?«
Der Himmel war stockdunkel, dabei war es erst kurz nach sechs. Es gab einen so heftigen Regenguss, dass man in der feuchten Luft nahezu ertrinken konnte. Yvonne antwortete nicht. Wie eine Schlafwandlerin schritt sie auf eines der Fenster zu, die von der Decke bis zum Boden reichten.
Rote Lichter sanken vom Himmel herab. Sie bildeten einen Kreis, der die Bibliothek umgab. Langsam näherten sie sich den Fensterscheiben.
Lucian fluchte. Ravenna bekam am ganzen Körper Gänsehaut, als sie sah, wie die Erscheinungen in der Luft schwebten, Globen aus rotem Licht.
»Yvonne!«, schrie sie und ging auf ihre Schwester zu.
Yvonne hörte sie nicht. Wie in Trance stand sie am Fenster, ihre Augen waren geschlossen und die Lippen bewegten sich ohne einen Laut. Dann hob sie beide Arme.
Die Fensterscheiben platzten. Die Druckwelle presste die Scheiben nach innen und von allen Seiten flogen Glasscherben durch den Raum. Ravenna schrie auf und hob schützend die Arme. Sie sah noch, wie Yvonne von dem Wirbel aus Glas und Regentropfen verschlungen wurde, und fürchtete das Schlimmste. Dann prallte sie mit dem Rücken gegen ein Regal. Als sie die Arme sinken ließ, stand ihre Schwester noch immer an der Kante, die nun nicht mehr durch eine Glasscheibe von dem Abgrund getrennt wurde. Tief unter ihr toste der Verkehr, und der Rock flatterte ihr um die Beine. Mit einer Handbewegung rief sie die glühenden, roten Globen zu sich.
Geräuschlos glitten die Lichter ins Innere der Bibliothek. Blitze zuckten im Innern der Blasen, Miniaturen des Unwetters, das über Straßburg tobte.
»Yvonne, verdammt! Was tust du denn da?« Benommen rappelte Ravenna sich vom Boden auf. Die Explosion hatte sie etliche Meter durch den Raum geschleudert. Glaskrümel rutschten ihr unter den Kragen, als sie sich auf die Beine zog.
»Weg hier!« Plötzlich war Lucian neben ihr und zerrte sie zwischen die Regale. »Los doch! Begreift Ihr nicht, was Eure Schwester getan hat? Oder wollt Ihr immer noch behaupten, in Eurer Welt verstünde niemand etwas von Magie? Von Schwarzer Magie, um genau zu sein.«
»Es gibt tatsächlich …« Kugelblitze und rote Kobolde, hatte Ravenna sagen wollen, aber die Stimme versagte ihr. Ihr Mund war trocken und ihre Augen brannten. Die roten Lichter, die nun mitten im Raum schwebten, vergifteten die Atmosphäre. Yvonne … was ist bloß mit Yvonne?, dachte sie und spürte Panik in sich aufsteigen.
Wie in Zeitlupe trieben die Lichter auf die Glaskästen zu, in denen die Handschriften aufbewahrt wurden, und begannen zu sinken. Plötzlich begriff Ravenna, was hier geschah: Beliar versuchte, die letzten Spuren der Sieben zu verwischen. Wenn diese Dokumente verbrannten, gab es nichts mehr, was an den Hexenkonvent auf dem Odilienberg erinnerte. Und aus irgendeinem Grund gelang es dem
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