Die Hexen - Roman
Ill.«
Kurze Zeit später saßen sie in der Küche und wärmten sich mit heißem Tee. Yvonne lehnte in der Ecke am Fenster, bis zum Kinn in eine Decke gehüllt. Die meiste Zeit über hielt sie die Augen geschlossen, klammerte sich an eine dampfende Tasse und gab vor, sich nicht an die Ereignisse in der Bibliothek zu erinnern.
»Dann habt Ihr also Beliars Gesicht in dieser Maschine gesehen? Unter einem falschen Namen?«, fragte Lucian soeben. Er schüttelte sich leicht, als jage ihm die Vorstellung einen Schauer über den Rücken. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Nun, offenbar ist es dem Marquis tatsächlich gelungen, die Sieben zu täuschen und mit dem Siegel zu entkommen«, erklärte Ravenna. »Siebenhundert Jahre lang war der Ring in seinem Besitz. Irgendwann und aus irgendeinem Grund muss er den Namen gewechselt haben, vermutlich nachdem der Hœnkungsberg erobert wurde. Er wollte seine Spur verwischen.«
Lucian bekam große Augen. »Beliars Festung wurde erobert?«
»Irgendwann schon«, entgegnete Ravenna. »Irgendwann wird alles erobert oder verlassen. Nichts ist für die Ewigkeit.«
Der Ritter stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub die Finger im Haar. »Dann ist unsere Mission gescheitert«, stieß er hervor. »Wir bringen das Siegel nicht rechtzeitig zurück. Die Sieben und ihre Gefährten müssen sterben. Es ist alles verloren.«
Ravenna ging vor ihm in die Hocke und legte ihm die Hand aufs Knie. »Noch ist gar nichts verloren«, sagte sie beschwörend. »Wir werden unsere Freunde retten, Lucian. Du darfst nicht vergessen, dass wir beide jetzt hier sind und von der Sache wissen. Dadurch bietet sich uns die Chance, das Siegel auf den Berg der Hexen zurückzubringen. Es ist noch nicht vorbei.«
Das Vertrauen, mit dem er sie ansah, schmerzte fast. »Und was wollt Ihr tun?«, fragte er. Mit einem zaghaften Lächeln hob Ravenna den grünen Notizzettel, auf dem der Name ihres Therapeuten stand.
»Ich kann jederzeit vorbeikommen«, las sie vor. »Jederzeit. Diese Nachricht hat Corbeau auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Er weiß jetzt, dass wir hier sind, und lädt uns in seine Villa ein.«
»Das ist eine Falle«, meinte Lucian.
Ravenna zog die Schultern hoch. Wenn sie an das stille, große Haus dachte und an den Mann in dem knarrenden Ledersessel, der sie dort erwartete, wurde ihr flau im Magen. »Ja, das glaube ich auch«, murmelte sie. »Aber wir haben keine andere Wahl. Wir wissen jetzt, dass das Siegel hier ist, in dieser Zeit. Du hast gesehen, wie stark die Villa gesichert ist – wie eine mittelalterliche Burg. In diesem Haus ist Melisendes Schatz so sicher wie in einem Banktresor. Wenn wir den Ring zurückholen wollen, müssen wir dort eindringen.«
Düster verschränkte Lucian die Arme. »Beliar ist auch in Eurer Welt mächtig. Er kann auch hier Magie wirken. Wenn wir uns in dieses Haus begeben, verlassen wir es möglicherweise nicht wieder lebend.«
Sein Blick ruhte auf Yvonne, die ihren Tee in kleinen Schlucken trank. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie fast alles verschüttete, und in ihren Augen lag ein gespenstischer Schimmer. Erst hatte Ravenna angenommen, die Rötung käme vom Rauch, doch allmählich wurde ihr klar, dass das purpurne Leuchten eine Nachwirkung der heftigen, magischen Ströme war, die durch Yvonnes Körper geflossen waren. Warum hat sie das nur getan? Diese Frage stellte sie sich seit der Flucht aus dem brennenden Gebäude immer wieder.
»Ich fürchte, das Risiko müssen wir eingehen«, sagte sie leise.
»Eines verstehe ich immer noch nicht.« Lucians sachlicher Tonfall wirkte beruhigend auf sie. Er schien sich bereits voll und ganz auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, ein Krieger mit einer Mission. »Die Tatsache, dass Beliar das Siegel über siebenhundert Jahre in seinem Besitz hatte, beweist doch, dass es uns nicht gelang, ihm den Schatz zu entwenden.«
»Du vergisst die Magie der Zeittore«, widersprach Ravenna. »In deiner Zeit ist der Diebstahl gerade erst passiert. Wenn wir das Siegel finden und auf den Odilienberg des Jahres 1253 zurückbringen, dann ändert sich alles. Dein Leben und meine Zukunft, verstehst du? Dann nimmt die Geschichte einen völlig anderen Verlauf – ohne diesen Dämon, der ständig mitmischt und alles Gute verdirbt.«
Aufmerksam sah Lucian sie an. »Ihr seid weitsichtiger, als Melisende es war«, sagte er schließlich. »Es war gut, dass Ihr mich überredet habt, Constantins Burg zu verlassen. Sonst wären wir
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