Die Hexen - Roman
wie er Lehrlingen im ersten Ausbildungsjahr gerne erzählte.
»Nun geh doch nicht gleich in die Luft, ich mein’s ja nicht bös. Wie lange bist du schon bei uns? Im Juni werden es fünf Jahre. Keine Widerrede – wir haben neulich nachgerechnet. Fünf Jahre und in der ganzen Zeit kein fester Freund. Niemand, mit dem du ins Kino gehst oder abends mal ein Glas Rotwein trinkst. Keiner, mit dem du deine Probleme beredest. Da ist es doch normal, wenn wir uns Gedanken machen.«
»Wir? Wer ist wir?«, schnaubte Ravenna. »Georges, Mirco und die anderen Kerle? Das sind eure Gespräche in der Mittagspause? Hör zu, Jacques, wenn ich gute Ratschläge brauche, dann bestimmt nicht von einem Haufen Handwerker!«
Mit einem unglücklichen Lächeln setzte der Steinmetz die verbeulte Mütze wieder auf. »Du bist einsam, Ravenna. Und es ist nicht gut, allein zu sein, schon gar nicht, wenn man so jung ist. Heute trägst du eine neue Halskette und da dachte ich …«
Jacques verstummte, als er ihren verärgerten Gesichtsausdruck sah. Sie presste die Hand auf den Ausschnitt, um das Triskel zu verbergen. Sie war einsam … das also dachten die Kollegen von ihr.
»Ich mache mich jetzt an die Arbeit«, erklärte sie schroff und packte die Sprossen der Stahlleiter.
Der rothaarige Steinmetz nickte ihr zu. »Aber pass auf, die Planke ist wirklich schmal und bei dem Wetter werden die Bretter gefährlich rutschig. Wenn du fertig bist, sag Bescheid wegen des Abtransports. Diese Figuren sind verdammt schwer.«
Über schmale Leitern stieg Ravenna auf das Gerüst, das die Fassade des Münsters umspannte. Sprosse für Sprosse tauchte sie in die Welt aus rotem Stein: Rundbögen und Pfeiler, Ziersäulen und Fensterrosen aus buntem Glas, Wasserspeier, Kaiser, Könige, Jungfrauen und Engel zogen an ihr vorbei. Der einsame Nordturm ragte über ihr in den Himmel hinein. Raben umkreisten das Gemäuer und der Platz mit den Fachwerkhäusern, den Touristen, Straßenmusikanten, Maronenverkäufern, den Cafés, Modegeschäften und Souvenirläden versank langsam im Dunst.
Ravenna mochte den Nebel. Wahrscheinlich wurde ich tatsächlich im falschen Jahrhundert geboren, dachte sie. Im Mittelalter – da hätte ich mich sicher wohlgefühlt. Da war die Welt nicht so kompliziert wie heute.
Als sie die Figurengruppe erreicht hatte, die unter einem Baldachin aus Stein stand, legte sie die Drahtspule auf einen Sims, stöpselte die Kopfhörer ein und regulierte die Lautstärke. Die Klänge einer irischen Harfe und die wohlklingende Stimme der Sängerin erfüllten sie mit einer Mischung aus Sehnsucht und Fernweh. Sie summte die Melodie leise mit, während sie den Draht abwickelte. Jacques hatte Recht gehabt: Die Figuren des Fürsten und der sieben Jungfrauen waren stark zerfressen. Tiefe Risse durchzogen den Stein, der Frost hatte einzelne Stücke abgesprengt. Behutsam wickelte sie den Draht um die Knöchel der Fürstenstatue und zwirbelte die Enden zusammen, so dass die Bruchstücke zusammengehalten wurden. Dann arbeitete sie sich langsam nach oben.
In den kurzen Pausen zwischen den Liedern hörte sie das fröhliche Pfeifen und die Hammerschläge ihrer Kollegen, die an einem anderen Abschnitt der Fassade am Werk waren. Sie dachte darüber nach, dass die Worte des alten Steinmetz sicher nur freundlich gemeint waren. Jacques machte sich wirklich Sorgen um sie. Und sie hatte sich benommen wie ein Idiot. Du hast Recht, mein Freund: Es gibt einen guten Grund, warum ich immer noch allein bin, sagte sie im Stillen zu ihrem Kollegen. Mit mir hält es nämlich niemand aus.
Da war der junge Gitarrist gewesen, der sie nach dem Konzert unbedingt in ein Café einladen wollte und ihr durch den Regen nachgelaufen war. Vor ihrer Haustür hatte sie ihn abblitzen lassen. Oder der Medizinstudent, der mittags Touristen durch die Stadt führte und ihr jedes Mal in historischer Kleidung eine Rose überbrachte. Sie wurde rot, als ihr die hässlichen Worte einfielen, mit denen sie ihn schließlich losgeworden war.
Du bist ein Querkopf, sagte Yvonne manchmal zu ihr. Ein Querkopf und ein Dickschädel. Du vergrätzt deine Verehrer doch mit Absicht.
Seit dem Überfall war alles noch viel schlimmer geworden. Manchmal genügte ein Blickkontakt oder eine harmlose Frage, und sofort stieg Panik in ihr auf. Sie zog sich immer mehr in ihre Dachkammer zurück, ging nicht mehr aus, mied größere Menschenansammlungen und beschränkte ihren Aufenthalt in der Stadt auf den Weg zur Arbeit und
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