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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Figurengruppe über dem Südportal umdrehte, entfuhr ihr ein lauter Schrei.
    Die Spuren, die die Zeit in den Stein gegraben hatte, waren verschwunden. Der Fürst der Welt sah aus, als hätte man die Statue soeben auf ihren Sockel gestellt. Er war nicht nur unversehrt, sondern wirkte auf unheimliche Weise lebendig. Dann erkannte sie, wie dieser Eindruck zustande kam: Die Schlangen auf dem Rücken der Figur bewegten sich. Ölig wimmelten die Leiber durcheinander und aus dem Spalt zwischen Außenwand und Skulptur drang ein Zischeln. Die Figur blickte sie an. Im Augenwinkel lag ein Glitzern und der Mund verzog sich zu einem schadenfrohen Grinsen.
    Ohne Nachdenken holte Ravenna mit dem Fäustel aus und schmetterte ihn gegen den erhobenen Arm der Figur. Der Sandstein splitterte. Die Hand mit dem Apfel knickte ab und polterte auf die Planken des Gerüsts. Diesmal beobachtete sie deutlich, wie ein schmerzerfüllter Ausdruck über das Gesicht der Figur huschte und sich dann in Zorn verwandelte. Eine pochende Ader erschien auf der Stirn des Fürsten. Die Jungfrauen starrten sie erschrocken an.
    Ravenna presste sich gegen das Geländer, denn von neuem rasten Licht und Dunkelheit über den Himmel und der Boden erbebte. Mit beiden Fäusten hielt sie den Hammer vor sich, falls sich die geisterhafte Prozession noch einmal regen sollte. Von der Kante des Gerüsts rannen ihr Wassertropfen in die Haare, doch sie merkte es kaum. Mit rasendem Pulsschlag bewachte sie die Sandsteinfiguren, die für einen Augenblick zum Leben erwacht waren und nun wieder stumm und reglos den Wandel der Zeit ertrugen.
    So fanden sie ihre Kollegen vor, die offenbar dem Krachen und Poltern gefolgt waren. Die Steinmetze gerieten in helle Aufregung, als sie die zerschmetterte Hand der Statue auf den Bohlen liegen sahen.
    »Wie ist das denn passiert? Ich dachte, du solltest die Figur mit Draht sichern und zum Abtransport vorbereiten«, rief Georges. Er bückte sich und hob ein Stück Stein auf, einen Teil des Daumens.
    Das hatte sie auch – bis zur Hüfte war sie gekommen. Die Spule lag auf dem Gerüst, der Draht selbst bildete ein wirres Knäuel. Ravenna biss die Zähne zusammen. Unter den Kleidern kitzelte sie ein Schweißtropfen, der ihr über die Rippen lief. Sie ließ den Fürst nicht aus den Augen.
    »Was machst du denn? Leg den Hammer weg!« Sie schüttelte den Kopf und wich zurück, als Mirco nach ihren Handgelenken griff. »Lass mich!«, stieß sie hervor. »Nur einen Augenblick – es geht gleich wieder.«
    »Was ist denn hier los?« Diese Stimme gehörte Monsieur Pascal, dem Leiter der Dombauhütte, der die Instandsetzung der Fassade überwachte. Hastig kletterte er auf das Gerüst. Als er die Zerstörung sah, lief er rot an. »Was ist denn in dich gefahren!«, fuhr er Ravenna an. »Wieso zertrümmerst du einen Kunstschatz aus dem dreizehnten Jahrhundert? Weißt du denn nicht, wie wertvoll diese Figur ist?«
    »Was machst du überhaupt noch hier?«, nuschelte Jacques undeutlich. Er tauchte dicht hinter dem Chef der Bauhütte auf. Seine Backe war geschwollen und sein Französisch verwischt von den Betäubungsspritzen, die er vor der Zahnbehandlung bekommen hatte. »Willst du hier übernachten?«
    »Wieso sollte ich das wollen?«, murmelte Ravenna. Über die Schulter spähte sie in die Rue Mercière. Das Pferd und die seltsamen Marktstände waren verschwunden. »Ich sollte doch für dich einspringen, weil du zum Zahnarzt musstest. Vor der Mittagspause habe ich dich eigentlich gar nicht zurückerwartet.«
    Betretenes Schweigen breitete sich unter ihren Kollegen aus. Monsieur Pascal, ein grauhaariger Brillenträger im karierten Jackett, hob Ravennas Thermoskanne auf, schraubte den Deckel ab und roch am Inhalt.
    »Was soll das?«, fuhr sie auf. »Was denkt ihr eigentlich von mir? Ich habe keinen Alkohol getrunken! Ich habe hier einfach nur meine Arbeit gemacht, bis … bis …«
    Doch sie fand keine Worte für das, was gerade geschehen war. Es war eine Wirklichkeit gewesen, die sie mit allen Sinnen erlebte. Der Geruch des nassen Steins, die Geräusche auf dem Platz und das gedämpfte Licht waren vollkommen real gewesen.
    Sie hätte nie geglaubt, dass sie die Wahnvorstellung auf einem Gerüst an der Kathedrale einholen würde, dreißig Meter über dem Boden. Doch sie war dort gewesen, auch wenn sie nicht wusste, wo dieses Dort lag.
    Verstohlen warf sie einen Blick auf die Statue des Fürsten. Nun wirkten die Züge wieder plump, wie von Kinderhänden aus

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