Die Hexen - Roman
Knetmasse geformt und von den Regengüssen vieler Jahrzehnte entstellt. Wie hatte sie sich so täuschen können?
»Du bibberst ja, Mädchen.« Jacques zog seine Jacke aus und legte ihr das speckige Kleidungsstück um die Schultern. Da erst merkte sie, dass sie bis auf die Haut durchnässt war. »Kein Wunder – es ist auch schon nach sechs Uhr. Eigentlich wollten wir die Baustelle gerade schließen«, brummte der alte Steinmetz.
Sechs Uhr? Voller Entsetzen starrte Ravenna ihn an. Wie um alles in der Welt konnte es plötzlich sechs Uhr abends sein? Gerade eben hatte sie die Teekanne aufgeschraubt, um vor der Mittagspause einen Schluck zu trinken. Der Becher stand noch auf dem Sims.
Doch der Inhalt war kalt und vom Regen verwässert. Das Licht hatte sich verändert und die Turmuhr zeigte den frühen Abend an. Was war aus den sieben Stunden geworden, die in der Zwischenzeit verstrichen waren? Hatte sie sieben Stunden lang auf die Figuren gestarrt? Dann war es nur verständlich, dass die wandernden Schatten sie glauben ließen, der Fürst der Welt schneide ihr Grimassen.
»Es tut mir leid«, stammelte sie. »Aber es ist nicht meine Schuld. Nicht meine Schuld.« Plötzlich merkte sie, dass sie wirres Zeug stammelte, und hielt den Mund.
Monsieur Pascal bückte sich und hob die abgeschlagene Hand auf. Behutsam bettete er das Bruchstück in einen Pappkarton, den jemand herbeigeschafft hatte. Mirco und ein anderer Kollege krochen auf den Knien herum und suchten einen abgesplitterten Finger.
»Geh nach Hause und leg dich in die Wanne!«, forderte Jacques sie auf und schob sie fürsorglich in Richtung Leiter. »Nimm ein heißes Bad und wärm dich erst mal auf! Morgen sehen wir weiter.«
Aber ein Blick auf den wütenden Leiter der Dombauhütte belehrte Ravenna eines Besseren. »Das wird ein Nachspiel haben«, rief Monsieur Pascal ihr nach, als sie in die Tiefe kletterte.
Ein Sammler und Gelehrter
Am nächsten Tag saß sie im Behandlungszimmer ihres Therapeuten und knetete nervös die Finger.
»Ich bin auf unbestimmte Zeit beurlaubt worden.«
Sie rutschte auf dem Ledersessel hin und her, während Doktor Corbeau sie schweigend musterte. Am Vormittag hatte sie in der Villa angerufen und sich einen Termin geben lassen. Glücklicherweise hatte Corbeau noch am selben Tag Zeit für sie. Vielleicht hatte sie am Telefon auch sehr aufgelöst geklungen. Immerhin geschah es zum ersten Mal, dass ihre Wahnvorstellungen so in ihr Leben eingriffen und es nachhaltig veränderten.
Sie zückte das Schreiben mit dem Briefkopf der Dombauhütte und schwenkte es vor Corbeaus Nase hin und her. Der Umschlag trug nur den Stempel des Absenders, aber keine Briefmarke. Monsieur Pascal hatte es so eilig gehabt, sie loszuwerden, dass er das Schreiben persönlich bei ihr vorbeigebracht hatte.
»Ich habe meinen Job verloren«, wiederholte Ravenna mit Nachdruck. Weil Sie mir nicht helfen konnten, setzte sie in Gedanken hinzu. Das anhaltende Schweigen ihres Therapeuten machte sie rasend.
Doktor Corvin Corbeau lehnte in dem tiefen Ledersessel und ließ sich nicht anmerken, ob er ihre Verzweiflung überhaupt wahrnahm. Die Fingerspitzen lagen geschlossen auf den Lippen, ein Zeichen höchster Konzentration. Wie gewöhnlich sah er blendend aus. Er war geschmackvoll gekleidet, trug ein dunkles Jackett und ein weißes Hemd, beides sicher nicht billig. Der oberste Knopf stand offen und ließ einen athletischen Körper erahnen. In dem ebenmäßigen Gesicht passte alles zusammen, und die Augen waren so dunkel, dass man die Iris kaum von der Pupille unterscheiden konnte.
Die Gesichtszüge ihres Therapeuten erinnerten Ravenna an das perfekte Modell, das einem Bildhauer als Grundform für alle Figuren dienen sollte. Jeder Steinmetz machte sich früher oder später auf die Suche nach einem solchen Gesicht, sie bildete da keine Ausnahme. Oft studierte sie die Gesichter der Passanten, wenn sie in einem Café saß, und überlegte sich, wie sie genau diesen Ausdruck in Marmor bannen konnte. Sie hatte sogar schon daran gedacht, Corbeau zu bitten, ob er ihr für einige Skizzen Modell sitzen würde. Der einzige Makel in seiner Miene waren die leicht gebogene Nase und die strengen Falten um den Mund. Auch wenn er entspannt war, wirkte er zornig und gekränkt, doch dieser Widerspruch machte sein Gesicht umso interessanter. Manchmal blickte der Doktor auch melancholisch aus dem Fenster, so dass Ravenna sich fragte, ob er die Gespräche nicht nötiger hatte als seine
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