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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Wochen vergangen sein – sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
    »Hallo? Hört mich jemand? Ist jemand hier?«
    Alles um sie herum war aus Watte. Kraftlos fiel ihr Kopf zurück. Ein Bild tauchte vor ihren Augen auf, ein junger Mann auf einem Scherbenhaufen, das Gesicht voller Blutsprenkel. Lucian – wenn sie an ihn dachte, wurde ihr ganz flau im Magen. So, wie er am Fuß der Treppe gelegen hatte, war sie sicher, dass er sich das Genick gebrochen hatte. Doch dann war er plötzlich verschwunden. Unruhe erfasste sie. Sie warf sich hin und her und versuchte, die Riemen zu dehnen, doch derjenige, der sie auf der Pritsche festgeschnallt hatte, wusste, was er tat.
    Die Tür öffnete sich und jemand betrat den Raum. Ravenna reckte den Hals, als sie das Schloss einschnappen hörte, und erwartete, dass sich einer der Pfleger näherte. Doch es war Kommissar Gress, der zu ihrer Liege kam. Er schlurfte mit schwerfälligen Schritten näher wie ein Mann, der vom Gewicht seiner Verantwortung niedergedrückt wurde. Seufzend nahm er sich einen Stuhl, der außerhalb von Ravennas Gesichtsfeld stand, zog ihn zu der Liege heran und nahm Platz. Dann betrachtete er sie ausgiebig und legte ihr behutsam die Hand auf den Arm.
    »Ravenna, können Sie mich hören?«
    Das Schlimmste war, dass sie bei vollkommen klarem Verstand war. Sie wusste ganz genau, was um sie herum geschah, sie hörte, sah und spürte, wie man mit ihr verfuhr, und der Geruch von Desinfektionsmitteln stach ihr in der Nase. Sie befand sich in der psychiatrischen Abteilung, auf der Station für aussichtslose Fälle. Ihr behandelnder Arzt war Doktor Corvin Corbeau.
    Nahtlos fügte der Dämon sich in die Welt der Klinik ein, wenn er mit wehendem Kittel und einem Krankenblatt unter dem Arm über die Flure eilte. Auf der Brusttasche trug er einen Aufnäher mit seinem Namen und seinem Rang als Leiter der Abteilung und er lächelte, während er dem Personal mit leiser Stimme Anweisungen gab und verfügte, dass die Patientin absolute Ruhe bräuchte. Sobald die Tür ins Schloss fiel, hörte Ravenna einen schweren Riegel klacken – als ob das nötig wäre, dachte sie wütend. Sie konnte keinen Finger rühren.
    Beliar hatte sie in die tiefste Hölle verbannt, in einen Abgrund, der so schrecklich war, dass ihre Vorstellungskraft versagte.
    »Ihr Therapeut behauptet, Sie seien überzeugt davon, eine Hexe zu sein. Oder sollte ich besser sagen: eine Magierin aus dem Mittelalter?«, fragte Gress leise. »Ist das wahr?«
    Ravenna schluckte. Ihr Mund war ausgedörrt von dem Beruhigungsmittel, das man ihr offenbar auch in der Klinik verabreichte. Seltsamerweise betäubte es nur ihren Körper, aber nicht ihren Geist.
    »Wie spät ist es?«
    Gress zuckte zusammen, als er sie sprechen hörte. Mit einem Ausdruck von Befremden musterte er sie, als sie ihm diese einfache Frage stellte, doch dann tat er ihr den Gefallen. Er drehte das Handgelenk und sah auf die Uhr. »Viertel vor drei. Am Nachmittag. Vor drei Tagen sind Sie in das Haus Ihres Therapeuten eingedrungen. Erinnern Sie sich noch daran? Corbeau rief heute Morgen an und sagte uns, dass Sie jetzt vernehmungsfähig seien.«
    »Drei Tage?« Ravenna hörte, wie kläglich ihre Stimme klang. »Ich bin schon drei Tage hier? Welches Datum haben wir heute?«
    Verwundert nannte Gress ihr den Tag. Erleichtert atmete sie auf. Es hatte keinen weiteren Sturz durch ein Zeittor gegeben. Die Zeit verging vollkommen normal, wenn auch unendlich langsam, solange sie regungslos auf dem Rücken lag.
    »Kann ich ein Glas Wasser haben?«
    Mit einem Ächzen stand Gress auf. Umständlich hantierte er an einem Waschbecken herum, das sich irgendwo oberhalb ihres Kopfes befand. Sie konnte nicht sehen, was er tat, aber er kehrte mit einem Plastikbecher zurück.
    »Ich kann nicht …« Hilflos zuckte Ravenna mit den Armen. Die Fesseln ließen ihr keinen Spielraum, sie konnte sich nicht einmal aufsetzen. Mit einem Stirnrunzeln hob Gress ihren Kopf an und setzte ihr den Becher an die Lippen. Während sie trank, bedauerte sie, dass sie ihn nicht nach Lucian fragen konnte. Der junge Mann aus dem Mittelalter, ein Zeitgenosse von Chrétien de Troyes … haben Sie ihn gefunden? Ich fürchte, er irrt verletzt und verloren durch unsere Welt.
    Unmöglich, dachte sie, oder ich bringe Lucian in die gleiche Lage, in der ich mich befinde. Sie blinzelte kurz, als Gress den Becher zur Seite stellte. Eine Träne kitzelte sie an der Schläfe und sickerte in das flache Kissen. Dann

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