Die Hexen - Roman
läutete sie ununterbrochen, schrill wie eine Sirene.
Als der Skorpion unversehrt unter der Uhr hervorkroch, entfuhr Ravenna ein lauter Schrei. Das Tier wirkte viel größer als in seinem Gefängnis aus Glas. Es hatte beide Fangscheren erhoben und der Stachel krümmte sich drohend.
Weitaus gelenkiger, als es einem Mann seines Alters eigentlich möglich war, sprang Beliar auf die Füße. Ein Streich seiner Klinge fegte den Skorpion zur Seite und in seinen Augen loderte das rote Licht. Er griff ins Nichts, ballte die Faust und rief: »Esvanier!«
Die Luft wurde in seine hohle Faust gesogen. Plötzlich hatte Ravenna das Gefühl, jemand presste ihr den Rauch in die Lunge und sie bekam keine Luft mehr. Sie würgte und versuchte voller Panik nach Beliar zu greifen, aber er stand nur da und beobachtete, wie sie in die Knie ging. Wie gezahnte Sägeblätter wirbelten Schatten am Rand ihres Gesichtsfelds, kamen immer näher heran.
Plötzlich dröhnten Schläge gegen die Haustür. Laut hallte das Pochen durch die Eingangshalle und eine Stimme rief: »Aufmachen! Polizei! Doktor Corbeau, öffnen Sie die Tür!«
Das ist Gress!, schoss es Ravenna durch den Kopf, während sich die schwarzen Flecken vollends vor ihre Augen schoben.
»Aufmachen! Wir wissen, dass Ravenna in der Villa ist!«
Fluchend löste Beliar den Bann und die Luft strömte zurück in den Raum. Ravenna fiel vornüber aufs Gesicht und lag zuckend auf dem Boden, wie ein Fisch an Land. Sie hörte, wie Beliar über sie hinweg stieg und zur Tür ging. »Ich komme«, rief er mit der kultivierten Stimme, die Corvin Corbeau gehörte.
Die Luft schmeckte köstlich. Zwei oder drei gierige Atemzüge genügten, dann klärte sich Ravennas Blick. Sie raffte sich auf. Ihre Lungenflügel schmerzten und sie zitterte an allen Gliedern, als sie auf die Empore wankte. Der Kandelaber lag auf dem Boden. Eine Kerze brannte noch, das Wachs schmolz ungleichmäßig entlang des Dochts und floss auf das Parkett. Sie traute ihren Augen kaum – die Glastreppe befand sich wieder an Ort und Stelle und hatte nicht einen Kratzer davongetragen. Hastig beugte sie sich über das Geländer.
Lucian war verschwunden. Ein paar Blutstropfen auf den Fliesen zeugten noch von dem Kampf, doch von ihrem jungen Ritter fehlte jede Spur. Dann fiel ihr Blick auf die Eingangstür.
Ihre Schwester stand neben Kommissar Gress. In dunklen Schlieren rann die Wimperntusche über Yvonnes Wangen. Es sah aus, als würde sie schwarze Tränen weinen. Es tut mir leid!, rief sie tonlos zu Ravenna hinauf. Es ist alles meine Schuld! Es tut mir schrecklich leid!
In diesem Augenblick entdeckte Gress sie. »Da ist sie!«, schrie er und deutete zur Empore hinauf. »Vorwärts, Beeilung! Lasst sie nicht wieder entwischen!«
Ravenna prallte zurück, als sie erkannte, dass der Kommissar von mindestens einem Dutzend Einsatzkräfte begleitet wurde. Auf der Straße zuckten Blaulichter, Scheinwerfer tanzten wie Irrlichter durch den Garten, und ein Lichtstrahl blendete sie, als ein Mann die Taschenlampe auf sie richtete. Im Laufschritt und mit gezogenen Waffen stürmten die Polizisten die Treppe hinauf. Diesmal unternahm Beliar nichts gegen den Überfall. Er lächelte nur, als habe er es kommen sehen, und beantwortete alle von Gress’ Fragen, die Höflichkeit in Person.
Nein, dachte Ravenna dann, während sie ganz ruhig am Geländer stand. Beliar hat es nicht kommen sehen, er wollte es genau so haben. Als man ihr befahl, sich mit dem Gesicht zur Wand zu drehen, gehorchte sie.
Das Verhör
Die Polizisten brachten Ravenna nicht auf das Revier, sondern ins Universitätsklinikum. Von der Aufnahmeprozedur bekam sie kaum etwas mit, weil Beliar ihr noch im Fond des Wagens eine Spritze in den Arm injizierte. Alles drehte sich um sie und ihr Kopf wurde schwer und fiel nach vorn. Sie hörte noch, wie Beliar den Fahrer zum Hintereingang lotste. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Sie wurde erst wieder wach, als sie sich in einem abgedunkelten, schallisolierten Raum befand. Sie spürte, dass sie auf einer Liege aus Kunststoff lag. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit gepolsterten Ledergurten festgeschnallt. Man hatte sie ausgezogen und ihr eine Kanüle in den Handrücken geschoben. Bis auf ein lächerlich gepunktetes Nachthemd war sie nackt. Ein Laken reichte bis zu den Schultern, so dass man die Fesseln nicht sah.
In Panik hob sie den Kopf. Wie lange lag sie schon hier? Seit dem Polizeieinsatz in der Villa konnten zwei Stunden oder zwei
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