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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Tonfolgen benötigten keine Worte, sie schienen aus allen Ecken zugleich zu kommen. Die Melodien drifteten auseinander, bis plötzlich ein gegenläufiges Muster entstand, Ruf und Echo, und dann verflochten sich die Stimmen wieder zu einem vielschichtigen Gewebe. Die Musik war … magisch. Und sie brachte Ravenna zum Weinen.
    Yvonne war dicht hinter ihr in den Tempel geschlüpft. Sie sagte kein Wort. Lautlos setzte sie sich in die erste Bankreihe. Lucian neigte die Schwertspitze nach hinten und sank neben dem Lager auf die Knie. Seine Hand bedeckte die Finger des sterbenden Ritters.
    »Malaury.« Der Kranke schlug die Augen auf. Seine Augen glänzten vom Fieber, und die Haut spannte sich so straff über den Schädel, dass er zu lächeln schien. Dann fiel sein Blick auf Ravenna. Die Hand, die er nach ihr ausstreckte, zitterte. Zögernd trat sie näher und ergriff seine Finger. Malaury glühte vor Fieber. Der alte Ritter war vollkommen gerüstet, mit Beinzeug, Armschienen und Helm. Sein Atem ging pfeifend.
    »Ravenna. Ihr seid zurückgekehrt. Ihr habt die Prüfung bestanden.«
    Überrascht blickte Lucian auf. »Das Siegel des Todes«, sagte Ravenna leise. »Meine Verhaftung und die Einweisung in die Klinik waren ein Teil der Ausbildung, nicht wahr? Deshalb habe ich von Marvin und Viviale geträumt. Es war ein Test.«
    Malaury nickte. »Ihr musstet den Schicksalspfad beschreiten, um eine echte Hexe zu werden«, stieß er hervor.
    Ein Schauer rann Ravenna über den Rücken, als sie begriff, dass die Sieben jeden ihrer Schritte beobachtet hatten – diesseits und jenseits der Tore. »Aber warum«, murrte sie, »warum habt ihr zugelassen, dass Beliar mich gefangen nahm? Es hätte doch auch schiefgehen können. Er hätte mich fast umgebracht.« Voller Unbehagen rieb sie ihr schmerzendes Kinn.
    »Glaub mir, es geht oft genug schief.« Viviales Stimme erinnerte sie wieder daran, dass sie sich auf dem Berg der Hexen befand. »Jedes Jahr verlieren wir hoffnungsvolle Anwärterinnen, die sich auf dem Schicksalspfad verirren. Sie sterben oder ihr Verstand verglüht vor Angst. Doch wir können es nicht beeinflussen. Es ist eine Prüfung, die allen Zauberinnen auferlegt wird und die sie bestehen müssen, wenn sie echtes, magisches Wissen erlangen wollen.«
    Als Ravenna den Blick der untersetzten Hexe bemerkte, ertastete sie wieder die Stelle auf ihrer Stirn. Unter den Fingern fühlte sie die Blüte mit den sichelförmigen Blättern. Das Mal war glatt wie Elfenbein.
    Viviale lächelte. »Hab keine Angst. Nur Eingeweihte können dieses Zeichen erkennen. Gewöhnlichen Menschen bleibt das dritte Auge verschlossen. Sie sehen dich, wie du warst, bevor du zu uns kamst.«
    »Aber …« Ravenna drehte sich zu ihrer Schwester um. Mit beiden Händen umklammerte Yvonne ein Knie. Sie wippte leicht beim Sitzen und beobachtete ebenso ungeduldig wie aufmerksam, was um sie herum geschah.
    »Sie konnte es sehen«, flüsterte Ravenna.
    »Wer ist das? Deine Schwester?« Viviale musterte Yvonne. »Und da wunderst du dich? Sie besitzt die Gabe. Ihr Talent ist so stark ausgeprägt, dass ich es bis hierher spüre. Eine wilde Gabe allerdings, denn sie wurde nie gelehrt, wie man Magie benutzt.« Dann seufzte die kleine Magierin und zog den Schleier zurecht, der von ihrer Haube herabhing.
    »Malaury«, sagte sie. »Es wird Zeit.«
    Mit einem Seufzen sank der alte Ritter auf das Lager zurück. Es klang, als würde eine zentnerschwere Last von ihm genommen. Er blickte Lucian voller Zuneigung an und drückte seine Hand. »Lebewohl, mein Junge«, krächzte er. »Du kannst stolz auf dich sein. Du hast damals die richtige Entscheidung getroffen, als du zu uns kamst.«
    Lucian schluckte schwer. Offenbar traute er seiner Stimme nicht, denn er nickte nur und schwieg. »Wir kennen uns nun schon so lange, dass ich dir einen letzten Rat geben darf«, fuhr Malaury fort. Mit dem Finger winkte er Lucian zu sich. Der junge Ritter beugte sich über das Sterbebett seines Lehrers, bis sein Ohr dicht am Mund des Sterbenden lag. Gebannt starrte Ravenna auf Malaurys Lippen, um die Worte abzulesen, doch dann verstand sie das Flüstern auch so.
    »Lerne zu verzeihen.«
    Lucian zuckte zurück, als habe ihn eine Schlange gebissen. Er riss sich aus Malaurys Griff los, sprang auf und stürmte durch den Hexentempel. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er gegen eine Säule treten, doch er beherrschte sich. Mit beiden Händen fuhr er sich durchs Haar und verschränkte die Finger

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