Die Hexen - Roman
Anschließend wob sie mit bloßen Fingern einen Zauber. Im Halbdunkel des Durchgangs schimmerte ein Gitter aus Lichtstäben und verschloss zusätzlich das Tor. Ein magisches Knistern lag in der Luft und bewirkte, dass sich die Härchen an Ravennas Armen aufrichteten.
Norani war zweifellos eine vollständig ausgebildete Hexe. Das Seltsame war nur, dass Ravenna ihr noch nie begegnet war – weder am Esstisch der Hexen noch in der Runde im Blauen Saal. Zusammen mit ihren Begleitern schritt die junge Magierin durch den Gang und trat in den Innenhof hinaus. Trotz aller Selbstbeherrschung entfuhr Yvonne ein Ausruf des Erstaunens.
»Das ist es also? So sieht es hier aus? Du meine Güte, Ravenna: Du hättest mir ruhig ein bisschen mehr erzählen können«, meinte sie. Sie wand den Arm aus Lucians Griff und schlenderte durch den Hof. Neugierig betrachtete sie den Konvent der Hexen, wie er mehr als siebenhundert Jahre vor ihrer Zeit ausgesehen hatte: das Becken des Augenbrunnens, den Tempel mit dem Kuppeldach, Morrigans Statue und die vielen Schülerinnen, die eifrig dabei waren, auf den Bankreihen unter den Linden Gepäckstücke zu stapeln: Satteltaschen, zu Bündeln gerollte Decken, Fässer und Säcke mit Proviant.
»Warum bist du zurückgekehrt?«, wollte Lucian unterdessen von Norani wissen. »Als ich dich das letzte Mal sah, war es ein Abschied für immer. Zumindest für eine sehr lange Zeit.«
In kerzengerader Haltung schritt die junge Hexe neben ihm her. So gingen alle Magierinnen, sogar die kleinsten Anwärterinnen auf einen Platz im Konvent bewegten sich lautlos wie Katzen. Ravenna hatte diese Gangart oft genug bewundert, vor allem, weil es ihr selbst nie gelang, derart elfenhaft zu schweben.
»Malaury liegt im Sterben.«
Bei diesen Worten blieb Lucian stehen. »Was ist geschehen? Waren es unsere Feinde? Wurde er im Kampf verletzt?« Er stieß die Worte hastig hervor.
Die schwarzhaarige Hexe schüttelte den Kopf. »Nein, es war kein hinterhältiger Bolzen und auch kein Schwertstreich. Viviales Gefährte erliegt seiner Krankheit, allerdings früher, als abzusehen war. Deshalb hat man mich zurückgerufen, obwohl ich schon auf halbem Weg in die Heimat war. Schließlich kam Ramon nach Malaury von allen Rittern dem Tod am nächsten. Nun sollen wir beide das Siegel von Mabon hüten.« Sie schnitt eine Grimasse, als ginge ihr der Gedanke gegen den Strich. Dann wies sie auf den Tempel. »Als ich ihn das letzte Mal sah, atmete Malaury noch. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr euch von ihm verabschieden.«
Lucian zögerte. »Jemand muss Constantin warnen«, sagte er.
Sanft schubste Norani ihn in Richtung Tempeltür. »Nun geh schon«, sagte sie. »Du siehst deinen alten Freund und Lehrer heute vermutlich zum letzten Mal. Ich werde mit Constantin sprechen und ihm berichten, dass ihr eingetroffen seid. Wir sehen uns später.«
Mit einem lässigen Gruß eilte sie zum Haupteingang des Konvents.
»Malaury unterwies mich im Schwertkampf und im Lanzenstechen«, erklärte Lucian leise, während er zum Tempel schritt und unter das Vordach trat. »Ohne ihn hätte ich keinen einzigen Durchgang im Turnier bestanden. Dank ihm weiß ich sogar, wo an einer Harfe oben und unten ist, auch wenn ich dem Instrument nur schauderhafte Klänge entlocken kann. Er war so etwas wie mein Vater.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ein besserer Vater als mein Erzeuger.«
»Wer war er? Dein Vater, meine ich?«, fragte Ravenna. Sie wusste, dass diese Frage wichtig war, denn sie erinnerte sich wieder an Beliars gehässiges Gerede und seinen Vergleich zwischen Lucian und seinem Vater. Mit seinen Worten hatte der Marquis den jungen Ritter völlig aus der Fassung gebracht.
Doch Lucian gab ihr keine Antwort. Er stieß die Tür des Tempels auf und trat ein. Der Innenraum war rund. Bänke aus weißem Stein fassten ein Podest in der Mitte ein, das von Säulen umgeben war. Der Ritter Malaury lag auf einem Lager aus Fell und Leinen. Die Kuppel des Dachs bestand aus Buntglas, durch das ein seltsames Licht auf den Sterbenden fiel: farbige Kringel, Rauten und ein durchsichtiger Streifen aus Gold, Türkis und Violett. Viviale saß am Kopfende des Lagers. Der Kopf ihres Gefährten ruhte in ihrem Schoß.
Ein Teil der Mädchen stand in chorischer Ordnung auf der Empore, sie sangen mit geschlossenen Augen. Es war dieser Gesang, der Ravenna sofort das Gefühl gab, der Tempel wäre ein unendlicher Raum, ein Kosmos, in dem Klänge und bunte Lichter schwebten. Die getragenen
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