Die Hexen - Roman
den Beinen, kräftig genug und bereit, eine offizielle Zeremonie über sich ergehen zu lassen.
Rasch warf Ravenna einen Blick zu der Heilerin hinüber. Nevere musterte den jungen Ritter etwa so, wie ein Bildhauer eine Skulptur begutachtete, die nicht vollständig gelungen war. Und als er sich zu der Versammlung umdrehte, erkannte sie auch, warum Nevere die Stirn runzelte: Ramon war zwar am Leben, doch auf der linken Seite war das Jochbein eingedrückt, als wäre er mit dem Kopf unter einen Dampfhammer geraten. Großflächiges Narbengewebe überzog die Haut und wucherte auch über die leere Augenhöhle. Die andere Gesichtshälfte war ausgesprochen wohlgestaltet und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Züge. Ramon schien sich über Noranis überstürzte Rückkehr zu freuen. Solange Ravenna nur seine rechte Gesichtshälfte sah, erkannte sie den jungen Mann wieder, der sich am Vorabend des Turniers über sie lustig gemacht hatte.
Nun war es Viviale, die sprach. »Ramon von Landsberg, der dem Tod um Haaresbreite entkam, und Norani, geboren in einem Zelt jenseits des Meers, aufgezogen in der Wüste und ausgebildet in der Kunst, Dämonen zu bezwingen und unlösbare Rätsel zu erfinden, weiterhin ausgebildet auf dem Odilienberg, um dort die Magie der Sieben zu erlernen, von Morrigan angenommen im Taubenschlag des Konvents während einer Strafarbeit …«
An dieser Stelle begannen einige der Mädchen zu kichern, doch ein Blick von Viviale brachte sie sofort wieder zum Schweigen. »Wie ich schon sagte, von der Göttin angenommen während einer Strafarbeit«, fuhr die alte Magierin fort und ein Lächeln huschte über ihre Züge. Noranis Gesicht wirkte einen Hauch dunkler als sonst und sie pustete sich eine störende Haarsträhne aus der Stirn. »Ihr beide habt dem Tod ins Auge gesehen, wie es sich für die Gefährten von Mabon gehört. Deshalb sollt ihr nun die Aufgabe übernehmen, die ich und Malaury viele Jahre lang ausführten: Ihr sollt das Siegel des Todes hüten.«
Mit beiden Händen übergab Viviale den Ring an Norani. Als die junge Hexe das Amulett berührte, glühte das verschlungene Knotenmuster auf, und Ravennas Puls ging schneller.
Dieses Zeichen hatte sie vor Augen gehabt, als sie Beliar entkam. Sie dachte wieder an die geheime Gruft in seinem Garten, an die Särge und den Opferstein und sie fühlte, wie sie ein Gefühl der Ungeduld überkam. Es gab so vieles, das sie den Sieben dringend berichten musste. Doch zunächst wollten die Hexen von Malaury und Viviale Abschied nehmen. Eine nach der anderen umarmten sie ihre langjährige Gefährtin und warfen bedauernde Blicke auf den Verstorbenen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Ravenna, als sie die Arme um Viviales Hals schlang. Die kleine Zauberin hatte nicht nur Wangen wie frische Äpfel, sie roch auch süß und säuerlich zugleich. »Wegen Malaury, weil wir uns davongeschlichen haben und Melisende doch nicht retten konnten … wegen allem.«
Sie merkte, wie sie zu zittern anfing, doch sie konnte nichts dagegen tun. Die Erschöpfung überwältigte sie. Seit dem Augenblick, als Beliar mit hundert weißen Kerzen in ihre Zelle gekommen war, hatte sie keine Minute lang die Augen geschlossen.
»Ruh dich aus«, riet ihr Viviale. »Norani hat die Sieben gewarnt und Constantin von eurer Beobachtung im Wald berichtet. Er prüft gerade die Verteidigungsanlagen des Konvents. Marvin ist ausgezogen, um nach dem Hexenbanner zu suchen. Wir lassen es nicht so weit kommen, dass er den magischen Strom unterbricht. Hörst du, Ravenna? Du bist hier in Sicherheit. Versuch etwas zu schlafen. Euch bleibt bis zum Aufbruch nicht mehr viel Zeit.«
Aufbrechen? Wohin aufbrechen?, wunderte Ravenna sich. Ihre Verwirrung wuchs mit jeder Viertelstunde, die sie wieder auf dem Odilienberg verbrachte. Vieles hatte sich seit ihrem Nachtritt nach Straßburg verändert, und ihr wurde bewusst, wie wenig sie über die Geheimnisse der Hexen wusste.
»Geh!«, flüsterte Viviale ihr ins Ohr und schob sie in Richtung Ausgang. »Lass mich noch ein Weilchen mit Malaury allein. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, dass ich kaum glauben kann, dass er nicht mehr am Leben ist.«
Maeve
Als Ravenna aus dem Tempel trat, sah sie gerade noch, wie ihre Schwester mit den anderen Schülerinnen im Speisesaal verschwand. Yvonne plauderte bereits angeregt mit einigen der älteren Mädchen und es würde gewiss nicht lange dauern, bis sie ihren Gesprächspartnerinnen jede Einzelheit aus der Nase gezogen
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