Die Hexen - Roman
Patienten.
Ungeduldig zählte sie die Schrecken des Vortages an den Fingern auf. »Sieben Stunden Zeitverlust. Wahnvorstellungen. Eine zertrümmerte Steinskulptur von unschätzbarem Wert, für die keine Versicherung aufkommt. Ein Anpfiff vom Chef, haarscharf an der Kündigung vorbei. Und heute dieser Brief, in dem ich gebeten werde, meiner Arbeit fernzubleiben, bis die Sache geklärt ist. Es wäre wirklich nett, wenn Sie dazu etwas zu sagen hätten.«
Doktor Corbeau ließ die Hände sinken. »Das war kein Zeitverlust, sondern ein Verlust von Wirklichkeit. Ein Verlust der Erinnerungen. Vielleicht wissen Sie nicht mehr, was in diesen sieben Stunden geschehen ist. Aber Sie haben diese Zeit erlebt. So viel steht fest.«
Ravenna kniff die Augen zusammen und massierte die Falte zwischen den Brauen. Sie stand kurz davor loszuschreien. »Wo ist meine Erinnerung dann hingekommen? Was habe ich sieben Stunden lang auf dem Gerüst gemacht? Tee getrunken? Was, wenn ich in die Tiefe gestürzt wäre? Wenn der Fäustel jemandem auf den Kopf gefallen wäre? Dann wäre unter Umständen nicht nur eine wertvolle Figur beschädigt worden, sondern ein Mensch gestorben. Warum helfen Sie mir nicht endlich? Verschreiben Sie mir Pillen oder geben Sie mir eine Spritze! Weisen Sie mich von mir aus in eine Klinik ein, wo man mich heilen kann! Verstehen Sie nicht – ganz allmählich verliere ich den Verstand! Ich verliere mein Leben!«
Doktor Corbeau hatte ihr in aller Ruhe zugehört. Jetzt beugte er sich vor. »Niemand kann Ihnen helfen.«
Ravenna duckte sich unwillkürlich, so niederschmetternd waren diese Worte. Seit Monaten kam sie in die Praxis in der Villa an der Place des Meuniers. Alles in diesem Raum wirkte so aufgeräumt, so geordnet. Vor der Fensterfläche, die sich zum Garten hin öffnete, stand ein Schreibtisch aus Rosenholz, zweifellos eine wertvolle Antiquität. Die Stifte, das Krankenblatt und der in Leder gebundene Kalender lagen im rechten Winkel zueinander. Bücherregale verkleideten einen Teil der Wände, der Boden war mit einem cremeweißen Teppich ausgelegt. Im Hintergrund tickte eine Standuhr und an den Wänden hing eine historische Insektensammlung. In Glaskästen reihten sich Hunderte Käfer, Wanzen, Heuschrecken und Libellen aneinander, aufgespießt auf feine Silbernadeln. Panzer und Flügel schimmerten wie kostbare Schmuckstücke. Ravenna missfiel diese Sammlung und sie begriff nicht, wie Corbeau sich eine derartige Ausstellung an die Wände hängen konnte. Die leblosen Krabbeltiere machten sie nervös. Als würde man in einem Mausoleum sitzen, dachte sie. In einer Leichenhalle.
»Sie haben wohl Ihren Job verfehlt!«, schnaubte sie, um ein wenig Chaos in die erstarrte Ordnung zu bringen. »Ich dachte, Sie wären da, um mir zu helfen.«
Doktor Corbeau stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. »Niemand kann Sie heilen, wenn Sie es nicht zulassen. Und dafür kann ich leider keinerlei Anzeichen erkennen.«
Unbehaglich sank Ravenna in den Ledersessel. Corbeaus bohrender Blick ruhte auf ihr. Wie oft hatte sie diesen Satz schon gehört! Also war sie selbst schuld an allem, was ihr widerfuhr? Womöglich war es auch noch ihre Schuld, dass der Verbrecher ihr im dunklen Hausflur aufgelauert hatte! Diesmal jedoch schluckte sie ihren Ärger hinunter. »Was muss ich tun?«, fragte sie.
»Erzählen Sie mir von dem Überfall. In allen Einzelheiten. Jede Kleinigkeit kann uns weiterhelfen. Bannen Sie die Erinnerungen, die Sie immer wieder einholen, indem Sie dem Verbrecher, der Ihnen das angetan hat, ins Gesicht schauen.«
Hastig schüttelte Ravenna den Kopf. »Ich kann nicht.« Ihr Mund fühlte sich ganz ausgetrocknet an. »Ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern. Er … stand die ganze Zeit hinter mir. Ich habe nur seine Stimme gehört, wenn er mir befahl, was ich als N ächstes tun sollte.«
»Was hat er befohlen?«
Schweiß trat Ravenna aus allen Poren. Ich muss da durch, sagte sie sich. Doktor Corbeau meint, es sei das Beste. Es wird mir helfen, wenn ich mich ganz genau erinnere.
»Ich sollte ihm die Tür öffnen«, sagte sie leise. »Und auf keinen Fall das Licht einschalten. Er befahl mir, durch den Flur zu gehen. Dann spürte ich seine Hände auf … auf mir.«
Sie brach ab, umklammerte ihre Oberarme mit beiden Händen und beugte sich nach vorn. Wie oft hatte sie den Überfall nun schon beschrieben? Erst den Polizeibeamten, dann dem Kommissar, der ihren Fall übernommen hatte, und schließlich ihrem
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