Die Hexen - Roman
Therapeuten. Immer wieder hatte sie das Geschehen durchgemacht, ohne zu begreifen, warum der Mann in ihrem Hausflur gewartet hatte. Warum hatte er sich das Dachgeschoss eines Altbaus in der Petite France ausgesucht? Kannte er sie? War es ein Zufall? Hatte er sie schon lange vorher ausgekundschaftet oder hatte er sie willkürlich ausgewählt?
Ich hätte gerne Antworten auf diese Fragen statt selbst immer Rede und Antwort stehen zu müssen, dachte Ravenna. Plötzlich musste sie daran denken, dass ihre Schwester die ganze Angelegenheit als einen Fluch betrachtete. Vielleicht hat Yvonne gar nicht so Unrecht, überlegte sie.
»Sie machen das sehr gut«, lobte Doktor Corbeau. »Können wir fortfahren?«
Ravenna stand auf, um den beklemmenden Nachforschungen zu entgehen. Sie stellte sich vor das Fenster und blickte in den Garten hinunter. Der Swimmingpool war leer, in den Ecken des Beckens lagen tote Blätter aufgehäuft, die der Wind dort hingeweht hatte. Hinter dem Haus wuchs ein Baum mit dunkler, glatter Rinde, dessen kahle Äste sich in den Himmel reckten. Seltsam, dachte Ravenna, welcher Baum treibt Anfang Mai noch nicht aus? Vielleicht lag es am Winter, der in diesem Jahr besonders lang und hart gewesen war. Sogar in manchen Aprilnächten hatte es noch Frost gegeben.
Ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe des hohen Fensters. Zum ersten Mal bemerkte sie, wie ausgemergelt und blass sie war. Ihre Wangen waren eingefallen. Sie hatte Jacques’ Rat befolgt und noch am Abend ein heißes Bad genommen, doch sie fühlte sich matt und zerschlagen, als würde sie krank werden.
Ich halte das nicht mehr lange durch. Die Erkenntnis erschreckte sie. Was sollte sie tun, wenn die Verzweiflung die Oberhand gewann? Ihre Stelle hatte sie bereits so gut wie verloren. Was kam als Nächstes? Würde sie ihre Wohnung verlieren und auf der Straße landen? Die Vorstellung ließ sie frösteln.
»Ich habe das vorhin nicht so gemeint, das mit der Einweisung in ein Krankenhaus«, murmelte sie. »Es ist nur … manchmal bin ich so erschöpft von all diesen Schwierigkeiten.«
»Sie wissen doch, nichts geschieht gegen Ihren Willen.« Doktor Corbeau stand so dicht hinter ihr, dass sie erschrak. Sie drehte sich um.
»Es gäbe da vielleicht noch eine Möglichkeit«, sagte er. »Wir könnten es mit einer Hypnose versuchen. Manchmal lassen sich damit ungewöhnliche Resultate erzielen.«
Nein, dachte Ravenna unwillkürlich. Das ist mir zu viel. Er will in meinen Kopf eindringen und das kann ich nicht zulassen.
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie werden in Trance gleiten, ohne etwas zu merken«, fuhr Corbeau fort. Sein Blick ruhte lauernd auf ihr. »Dann kommen wir ungehindert an alles heran, was in Ihrem Gedächtnis gespeichert ist.«
Ravenna schielte nach der Standuhr und vergewisserte sich, dass die Sitzung fast abgelaufen war. »Nein danke. Lieber nicht.«
»Es wäre einen Versuch wert«, beharrte Doktor Corbeau. »Kommen Sie nächste Woche um dieselbe Zeit. Ich sage den Termin nach Ihrem ab, dann sind wir ungestört. Oder noch besser: Wir versuchen es gleich.«
Sie schlüpfte an ihm vorbei und nahm ihre Regenjacke vom Ständer neben der Tür. »Es wird Zeit für mich«, sagte sie steif. »Also dann.«
Doktor Corbeau ließ sie nicht aus den Augen, während er den Raum mit raschen Schritten durchquerte. »Sie weichen mir aus. Nun gut, das ist verständlich, das geht vielen meiner Patienten so. Aber es wird Ihnen nichts nützen. Diese Ereignisse werden Sie für den Rest Ihres Lebens verfolgen, wenn wir uns nicht damit auseinandersetzen.«
Wir! Das kann er ja wohl kaum ernst meinen, dachte Ravenna und spürte, wie ihr der Ärger die Kehle zuschnürte. Ich muss mich mit meiner Vergangenheit herumquälen, ich ganz allein.
»Gehen Sie von der Tür weg«, sagte sie leise, doch Corbeau rührte sich keinen Millimeter. Er stützte die Hände gegen den Rahmen und starrte sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Gehen Sie nicht«, stieß er endlich hervor. »Warum Zeit verlieren, wenn man auch sofort haben kann, wonach man sich sehnt? Was sagen Sie? Sollen wir einen Versuch wagen?«
Ravenna atmete flach ein und aus, um die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. »Wollen Sie mich testen? Geht es darum? Dass ich noch einmal dieselben Gefühle durchmache wie an jenem Abend? Und das soll helfen?« Sie lachte gezwungen und streckte die Hände nach oben, die Handflächen nach vorne gekehrt. »Na schön, Sie haben gewonnen. Da ist Beklemmung,
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