Die Hexen - Roman
Angst, Panik. Und Scham. Gleichzeitig fühle ich mich schutzlos und wütend. Reicht das für heute? Haben Sie genug gehört?«
Corbeau verschränkte die Arme und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Seine Augen glitzerten und sein Kinn wirkte wie aus Marmor gemeißelt. »Gegen meinen Willen kommen Sie hier nicht raus«, stellte er fest. »So muss es auch gewesen sein, als der Irre in Ihrer Wohnung stand, nicht wahr? Der Psychopath, der Sie terrorisierte, um seine Macht zu demonstrieren. Glauben Sie mir, ich kenne solche Leute.« Corbeaus Lachen klang hohl. »Hören Sie, Ravenna, ich will Ihnen wirklich helfen. Als ich diesen Beruf ergriff, nahm ich mir fest vor, meinen Patienten zuzuhören und zu verstehen, was sie antreibt. Kennen Sie dieses wunderbare Buch über die Suche nach dem Glück? Darum geht es doch bei euch allen. Aber ihr macht es uns verdammt schwer mit eurem Starrsinn.«
Ravennas Puls schlug Kapriolen. Sie starrte ihren Therapeuten an und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Es geschah nicht zum ersten Mal, dass Corbeau sich bedrohlich verhielt. Er hatte ihr nie eine Erklärung gegeben, sondern immer nur ihre Reaktion beobachtet. Als wäre ich eine Ratte in einem Käfig, schoss es ihr durch den Kopf. Oder eine aufgespießte Motte.
»Ich muss gehen«, beharrte sie. »Meine Schwester wartet mit dem Essen auf mich.«
Doktor Corbeau nickte. »Yvonne. Der blonde Engel. Die Jüngere von Ihnen beiden. Die Hübschere, wenn man Ihren Beschreibungen glauben darf. Ihr laufen die Männer in Scharen hinterher, während Sie das Dasein eines Mauerblümchens fristen. Schreibt sie Ihnen jetzt auch noch vor, wie Ihr Tagesablauf auszusehen hat?«
»Es reicht!« Plötzlich pulsierte das Blut kraftvoller durch Ravennas Adern, und das Gefühl von Krankheit und Schwäche zerstob. »Die Beziehung zu meiner Schwester lasse ich mir von niemandem kaputtreden! Wissen Sie, was Yvonne über den Einbrecher behauptet? Dass er mich verflucht hat. Dass es ein Fluch ist, der mich nicht mehr schlafen lässt und mir jede Lebensfreude nimmt. Was sagen Sie dazu?«
Corbeau lehnte sich mit einem hörbaren Atemzug zurück, bis sein Gesicht halb im Schatten lag. Aus der Dunkelheit unter dem Türsturz hörte Ravenna seine Stimme. »So, denkt sie das? Eine kluge, kleine Schwester haben Sie da. Glauben Sie denn an Voodoo oder Hexerei?«
Die Worte hatten einen unheimlichen Nachhall. Ravenna zog die Schultern hoch und atmete tief durch, doch plötzlich war es, als stünde sie unter einer Kuppel aus Kälte, einem Eisdom, in dem jeder Herzschlag gefror. »Ich möchte jetzt gehen«, sagte sie. »Was müssen Sie bloß für ein komischer Typ sein, wenn Sie immer mit dem Schlimmsten rechnen?«
Ganz allmählich zeigte sich ein Lächeln auf Corbeaus Lippen. Doch seine Augen lagen im Schatten. »Die Menschen kommen doch hierher, um mir ihre schlimmsten Geheimnisse anzuvertrauen«, sagte er leise. »Das haben Sie doch gewusst. Nicht wahr, das wussten Sie?«
Das Blut rauschte Ravenna in den Ohren. Corbeau machte keinerlei Anstalten, die Tür freizugeben. Ein Wort formte sich in ihren Gedanken, ein Wille, eine eiserne Entschlossenheit durchströmte sie, noch ehe sie es verhindern konnte. Avauntier!, befahl sie lautlos und Corbeau zischte, als habe er sich an einem glühenden Eisen verbrannt. Er drückte auf die Klinke und öffnete schwungvoll die Tür. Im hellen Licht nahm sein Gesicht wieder normale Züge an. Da stand ein gut aussehender Mann mittleren Alters, ein Sammler und Gelehrter und ein Doktor der Seelenkunde obendrein. Er lächelte, als Ravenna an ihm vorbeiging.
»Machen Sie’s gut. Wir sehen uns dann nächste Woche.«
Hastig überquerte sie die Empore, bis sie die Treppe erreicht hatte. Der erste Schritt kostete jedes Mal Überwindung, denn Stufen und Geländer bestanden aus Glas. Es war, als würde sie ins Nichts treten. Corbeau hat Recht – es ist alles in meinem Kopf, dachte sie. Schatten und Kälte, wo keine Schatten sind. Gespenster über dem Portal des Münsters und Feuerkreise auf meinem Küchenboden. Und keiner kann mir helfen.
Verstohlen wischte sie die Tränen ab, wegen der sie die Einzelheiten in der Eingangshalle nur noch verschwommen sah: den schwarzweiß gefliesten Boden, die dunkelroten Vorhänge, antike Möbel und den Kronleuchter. Sie zerrte die schwere Eingangstür auf und schlüpfte ins Freie. Sobald sie ins Tageslicht trat, konnte sie leichter atmen, doch die Bestürzung über die letzten Minuten der
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