Die Hexen - Roman
einer Locke, die deutlich kürzer als das restliche Haar war.
»Was meint Ihr?« Lucian griff in den Nacken und tastete nach ihrer Hand. Dann runzelte er die Stirn. »Keine Ahnung, wann das passiert ist«, brummte er. Er zuckte die Achseln. »Es ist ja nur das Haar und nicht der Hals.«
Ravenna kicherte und ließ sich tiefer in die Kissen sinken. »Wie bist du eigentlich aus Beliars Villa entkommen?«, wollte sie wissen. »Das hast du mir noch nicht erzählt.«
Lucian ließ ein unwilliges Knurren hören. »Wenn Ihr mich vor ein paar Wochen im Nacken berührt hättet, hättet Ihr die Beule fühlen können. Durch den Sturz durch die Glastreppe und den Aufprall war ich wie betäubt. Als ich wieder zu mir kam, hörte ich eure wütenden Stimmen aus dem Arbeitszimmer.«
»Wütend?« Ravenna lachte tonlos. »Ich hatte eher den Eindruck, dass ich ziemlich kläglich klang. Beliar hat mir furchtbare Angst eingejagt.«
Lucian fasste sie an der Hüfte und zog sie näher zu sich heran. »Ich hatte auch schreckliche Angst um Euch, doch ich wusste nicht, wie ich wieder in den ersten Stock gelangen sollte. Überall waren Glassplitter und Scherben und einen anderen Aufgang als die Treppe gab es nicht. Da zuckten von der Straße her plötzlich grelle, blaue Blitze und ein Geheul wie von einem Rudel Dämonen erklang. Es schien mir ratsam, ihnen nicht über den Weg zu laufen. Deshalb versteckte ich mich hinter dem Vorhang. Von dort aus musste ich mitansehen, wie Ihr festgenommen und fortgebracht wurdet.«
Diesmal klang Ravennas Lachen schon fröhlicher. »Das war schlau von dir, auch wenn da keine Dämonen eindrangen, sondern die Polizei.«
Lucian nickte. »Das begriff ich in dem Augenblick, als ich diesen Krieger Gress in der Tür stehen sah. Und Eure Schwester. Sie weinte schwarzes Blut.«
Ravenna schauderte. Auch sie war bei dem Anblick erschrocken, den Yvonne an jenem Abend geboten hatte. Zu sehr erinnerte die geronnene Wimperntusche auf ihrem Gesicht an Lynettes unheilvolles Bad im Hexenbrunnen. »Ich glaube kaum, dass es Blut war«, meinte sie. »Auch wenn sie manchmal ganz schön leichtsinnig handelt: Yvonne würde niemals eine richtige Schwarzmagierin werden.«
Dann erzählte sie Lucian von dem Verhör in der Klinik und von den Anschuldigungen, die Gress gegen sie vorgebracht hatte. Als sie geendet hatte, schwieg Lucian eine Weile. »Wir haben unseren Gegner unterschätzt«, gestand er dann ein. »Ich hätte nie gedacht, dass Beliars Pläne bereits so weit gediehen sind. Oder dass er so viele Verbündete hat.«
Ravenna betrachtete ihn. Dann fasste sie sich ein Herz. »Wer war sie?«, fragte sie leise. Und als Lucian nicht gleich zu begreifen schien, sagte sie: »Maeve. Marvin hat Andeutungen gemacht. Du warst erst siebzehn, hat er mir verraten. Und sie?«
Lucian presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Dann rollte er sich auf den Rücken und legte den Arm quer über die Stirn. »Ja, das war ich«, sagte er. »Siebzehn. Und jetzt bin ich fünfundzwanzig, doch es kommt mir vor, als wäre das alles erst gestern geschehen. Ihr müsst wissen, dass ich in einem Haus geboren wurde, in dem man den Teufel verehrte.«
Er drehte den Kopf und blickte sie an. Offenbar wollte er herausfinden, ob sein Geständnis sie schockierte. Ravenna setzte sich auf und wickelte sich in das dünne Laken. Sie hatte nur zwei oder drei Stunden geschlafen, doch sie fühlte sich hellwach und war bereit, seiner Geschichte zu folgen.
»Ich stamme von einer Felsenburg in der Nähe von Carcassonne«, berichtete Lucian nun. »Sie liegt in einer Schlucht, die von allen nur das Tal des Schreckens genannt wird. Mein Vater war dort der Burgvogt und herrschte ursprünglich im Auftrag des Königs. Damals erstreckte sich das Reich der Sieben noch bis an den Rand des Grenzgebirges und von dort bis zu den Küsten beider Meere. Ihr habt selbst gesehen, welcher kümmerliche Rest uns heute geblieben ist.«
Aufmerksam hörte Ravenna zu. Sie erfuhr zum ersten Mal, dass das Hoheitsgebiet der Hexen noch wenige Jahre zuvor viel größer gewesen war. Nach Lucians Beschreibung hatte es ursprünglich den Raum zwischen Rhein, Mittelmeer und Atlantik umfasst. Im Vergleich dazu war den Sieben nicht mehr als eine Provinz geblieben.
»Mein Vater war ein Herr mit harter Hand«, fuhr Lucian fort. »Falls etwas nicht nach seinem Willen verlief, verhängte er grausame Strafen. Und das war beinahe täglich der Fall. Alle lebten
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