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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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einmal faustgroße Steine auf das Auto unseres Nachbarn herabfielen?«
    »Um ein Haar hätte er Johnny angefahren. Und du hättest dir den Hals brechen können, so wie du vom Pferd gestürzt und auf der Straße aufgeschlagen bist. Aber dieser Kerl wollte einfach weiterfahren.«
    »Also warst das doch du!« Ravenna holte tief Luft. Dann schüttelte sie den Kopf. »Bislang hast du immer abgestritten, dass du etwas mit diesem Hagelschlag zu tun hattest. Kein Mensch konnte sich damals erklären, wie das passiert ist.«
    »Und wenn schon?«, maulte Yvonne. »Habe ich dem Typ auch nur ein Haar gekrümmt? Nein. Er musste die Windschutzscheibe ersetzen lassen und hatte ein paar Beulen in seiner Motorhaube. Ebenso gut hätte ich ihm die Steine auf den Kopf fallen lassen können. Verdient hätte er es jedenfalls.«
    Sie streckte den Arm aus, öffnete die Hand und zeigte Ravenna einen graubraunen, scharfkantigen Felsbrocken. Ihre Lippen bewegten sich, und so schnell, wie der Stein erschienen war, verschwand er wieder.
    Ratlos starrte Ravenna ihre Schwester an. Sollte Doktor Corbeau etwa Recht behalten? Waren sie beide zu unterschiedlich, um miteinander auszukommen? War sie wirklich eifersüchtig auf ihre kleine Schwester, weil Yvonne scheinbar alles mühelos gelang – sogar das Zaubern?
    Kritisch musterte Ravenna sich im Spiegel. Sie musste zugeben, dass ihr introvertiertes Wesen wohl oft abweisend wirkte. Ihre Augen glänzten rauchgrau, eine ungewöhnliche Farbe, die aber zu ihren dunklen Haaren und den langen Wimpern passte. Außer dem Triskel trug sie keinen Schmuck. Das verwaschene T-Shirt und die ewig gleiche Jeans waren längst zur Gewohnheit geworden, ein unauffälliges und bequemes Outfit, meistens voller Katzenhaare, mit dem sie sich unter Menschen wagte. Sie hatte sich nie gerne aufreizend angezogen und seit dem Überfall war es damit ganz vorbei. Wenn sie sich recht erinnerte, hing in ihrem Schrank ein einziges Sommerkleid. Das hatte sie zuletzt an Mémés Geburtstag getragen, ein halbes Jahr vor dem Tod ihrer Großmutter.
    »Raven?« Yvonnes Lockenschopf tauchte dicht vor ihr auf und unterbrach ihren Blickkontakt zum Spiegel. »Sagst du mir, was mit dir los ist?«
    »Ich dachte gerade, dass ich dir das Kleid mit den gelben Blumen schenken will. Nimm es dir! Ich ziehe es bestimmt nie wieder an«, meinte Ravenna.
    Die Besorgnis stand ihrer Schwester ins Gesicht geschrieben. »Mémé mochte es, wenn du dieses Kleid trägst«, wandte sie ein. »Bestimmt erinnerst du dich auch daran, dass wir ihr versprochen haben, zusammenzuhalten. Durch Dick und Dünn. Für immer und ewig. Es würde ihr nicht gefallen, wenn wir uns streiten.«
    Ravenna nickte und schloss die Augen. Mémé …
    Sie sah ihre Großmutter vor sich, wie sie im Garten der Eltern inmitten einer Flut von Maiglöckchen saß. Die Bank mit der abgeblätterten Farbe war ihr Lieblingsplatz gewesen und sie hielt immer eine der zahlreichen Hofkatzen auf dem Schoß. So las sie stundenlang in alten, zerfledderten Büchern, oder kritzelte Notizen an den Rand ihrer gesammelten Kochrezepte.
    Mémé war so wunderbar altmodisch gewesen, so unberührt von der Zeit, dachte Ravenna. Während ihrer Kindheit war sie für die Schwestern weitaus wichtiger gewesen als die Eltern, die mit dem Weingut und der Gastwirtschaft alle Hände voll zu tun hatten. Mémé lehrte die Mädchen, Gedichte aufzusagen und Lieder zu singen, Pflaumen einzukochen und Kuchen zu backen, Kleider zu nähen, Honigwaben zu schleudern und aus dem Wachs Kerzen zu ziehen. Sie erinnerte sich noch daran, wie die Gegend um das Dorf früher ausgesehen hatte, bevor die Autos, die Strommasten und die vielen Touristen kamen.
    Obwohl sie den kleinen Weinort im Elsass nie verlassen hatte, wusste sie mehr über das Geschehen in Ottrott als der geschwätzige Zeitungshändler an der Rue Principale, der sein Geld mit Schlagzeilen verdiente.
    »Mémé konnte hellsehen«, raunte Yvonne. »Sie war durch und durch eine Hexe. Von ihr habe ich die Macht des Rufens geerbt. Und du könntest deine magische Gabe auch entfalten, wenn du es nur zulässt.«
    Ravenna schlug die Augen auf. Sie befand sich wieder in dem engen Badezimmer unter der Dachschräge, das vollgestopft war mit einem altmodischen Waschstand und einer Truhe voller Hand tücher. Auf der Ablage neben dem Waschbecken standen ein Strauß Lavendel und ein Schälchen mit handgemachter Seife.
    »Wozu?«, murmelte sie und nahm auf dem Rand der Wanne Platz. Plötzlich

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